Der letzte Schattenschnitzer
Erste-Hilfe-Kasten, öffnete ihn und holte das Verbandszeug hervor. Dann griff er in die dunkle Masse am Ende seines Armes, löste den Verband aus Finsternis und ließ ihn zu Boden gleiten. Stumm betrachtete er die Reste seiner Hand. Sie sah nicht gut aus. Daumen und Zeigefinger waren zerschmettert, der Ringfinger nicht mehr vorhanden. Er biss die Zähne zusammen und versuchte unter Schmerzen, die kläglichen Überreste zu reinigen. Es war unwahrscheinlich, dass er die Hand je wieder würde benutzen können.
Er wusste nicht, was sein Meister nun plante. Das Eidolon wiederzufinden würde gewiss mehr als schwer sein, doch das war noch die geringere Aufgabe im Vergleich mit der, es einzufangen. Vor allem, wenn dabei die Augen des Rates auf ihnen ruhten … Er fragte sich, wofür Ripley das Eidolon wohl geschaffen hatte und was es nun tun würde.
Vorsichtig begann der Mann mit der silberrandigen Brille, die Reste seiner Hand mit einem gewöhnlichen Verband zu umwickeln. Vielleicht hätte ein Arzt noch mehr für ihn tun können, aber in ein Krankenhaus konnten sie nicht gehen. Nicht jetzt, nachdem der Vorfall in Kutna Hora den Rat und seine Häscher aufgeschreckt hatte. Er öffnete eine Pillendose, nahm etwas gegen die Schmerzen und begab sich dann zurück ins Zimmer. Dort ließ er sich in den Sessel fallen, nahm seinen Revolver vom Tisch und fixierte die Tür.
Der Mann war froh, dass sein Meister ihn nicht hatte fallen lassen. Er genoss es, gebraucht zu werden. Auch wenn er nicht in den Plan eingeweiht war. Doch ihm war klar, dass sein Herr mehr über das Eidolon wissen musste. Und nicht zuletzt aus diesem Grund fragte er sich, wem genau er da wohl diente. Doch seine Loyalität war am Ende größer als seine Neugier, so dass er niemals gewagt hätte, dieser Frage nachzugehen.
Nach den Ereignissen in Kutna Hora dauerte es nicht lange, bis sich am Ende der Welt wieder die mächtigsten Schatten einfanden, die sich um das Schicksal der Menschheit sorgten.
Sie flossen in die Höhle, verschworen, lautlos, unbemerkt, und nahmen die Plätze ein, die den Mitgliedern des Rates seit Anbeginn der Zeiten vorbehalten waren.
Dieses Mal waren es zunächst nur vier dunkle Schemen, die sich hier im Inneren der Welt vereinten. Doch noch bevor ihre Verwunderung das Dunkel durchdrang, spürten die Schatten am Ende der Welt, wie über die Treppe auch das letzte Mitglied hinab und in ihre Mitte strömte. Und kaum, dass seine Schwärze sich mit der ihren mischte, ahnten sie, dass das Gleichgewicht der Dinge nicht nur durch einen Schatten bedroht wurde, der beschlossen hatte, seinen Herrn zu lehren. Das Wissen, das jener letzte Schatten nun in ihre dunkle Runde einfließen ließ, war wahrlich ungeheuerlich …
»Das Eidolon! Es … Es ist frei!«, formten seine Worte, und das Dunkel schien beinahe zu erstarren.
»Nun also doch. Nach mehr als fünfhundert Jahren dringt Ripleys Vermächtnis in die Welt …«, entgegnete eine andere Stimme, die nun im Schreck an Schärfe gewann.
»Aber wer hätte es befreien sollen? Und vor allem weshalb ?«, klang fragend die weibliche Stimme in das Dunkel hinein.
»Was, wenn es der Alchemist selbst war?«, gab der zuletzt hinzugekommene Schatten zu bedenken.
»Er ist tot, du Narr! Und der Rat selbst war es, der den Schatten von seinem Leichnam trennte, um ihn bis ans Ende der Zeit in ein Gefängnis zu sperren«, ergriff die scharfe Schattenstimme wieder das Wort.
»Das war vor meiner Zeit. Doch selbst wenn ihr ihn banntet, ist es ihm doch gelungen, das Eidolon vor dem Rat zu verbergen …«
»Wir haben seinen Körper verhört, sogar seinen Schatten. Doch er hat das Versteck vor uns verheimlicht. Und wer weiß, wenn jemand den Schatten des Alchemisten befreit hat, dann hat er womöglich das Eidolon …«, dachte der Alte in das Dunkel hinein.
»Das ist unmöglich. Sein Gefängnis ist unüberwindbar«, fuhr die scharfe Stimme dazwischen.
»Nehmen wir an, sein Schatten ist noch immer gefangen. Wer sollte sich dann auf die Suche nach dem Eidolon gemacht haben?« Der zuletzt Hinzugekommene suchte in ihrer gemeinsamen Schwärze nach einer Antwort.
Und es war die weibliche Stimme, deren Gedanken als Erstes Gestalt annahmen:
»Ripley war seinerzeit, als er seinen Plan fasste und das Eidolon schuf, nicht allein. Er hatte einen Mitverschwörer …«
»Den Italiener. Über den wir auch nach all diesen Jahrhunderten nicht mehr wissen, als dass er in seiner Heimat die Alchemie und das Schattensprechen
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