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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Schatten alles tun würde, um es wiederherzustellen.
    An diesem Nachmittag im Frühling, als der Rat seinen Tod beschloss, kam Norman Fiedler über den Zaun in den Garten der Mandelbrodts geklettert. Und während Werner Jonas’ Mutter hinter ihrer Schlafzimmertür einen Moment lang vergessen ließ, dass ihr Sohn sie womöglich niemals Mama nennen würde, vereinten sich im Garten die Schatten von Argos und Norman. Er selbst saß dort und starrte schweigend auf den Boden.
    In seinem Rücken erhob sich die alte Eiche mit dem Baumhaus. Einer der Liebhaber seiner Mutter hatte es gebaute, um das Kind von Zeit zu Zeit zumindest für ein paar Stunden aus dem Haus zu haben. Bevor es aber überhaupt fertig gewesen war, hatte Ruth einen neuen Mann angeschleppt. Auch der hatte halbherzig weiter daran gewerkelt, bis schließlich auch er gegangen war. Schlussendlich hatte es vier Männer gebraucht, bis das Baumhaus endlich fertig wurde. Bis jetzt hatte Jonas nur zwei Mal darin gespielt. Denn die Schatten des Querkrauts interessierten ihn weit mehr als das Baumhaus. Und ebendiesen widmete er sich auch jetzt wieder.
    Schweigend betrachtete Norman, wie Jonas die Schatten der Halme bog. Er kannte die Besessenheit seines Freundes und wusste, dass Jonas die Pflanzen von ihrem Anderssein befreien wollte. Norman klopfte ihm auf die Schulter, gerade so wie die Erwachsenen es taten, wenn sie einander aufmuntern wollten. Und tatsächlich lächelte Jonas für einen kurzen Moment.
    Allerdings lag das nicht an Normans aufmunternder Geste. Vielmehr kündeten dessen kleiner, dicker Schatten und die getrockneten roten Flecken in seinem Gesicht von einem wüsten Mittagessen und einer Küche, die am Ende den Kampf gegen die Tomatensoße verloren hatte. Jonas’ Schatten – verschmolzen mit Normans – schmeckte die kindlichen Freuden des Jungen und ließ das sonst meist ernste Gesicht seines Herrn sachte erstrahlen. Indem er in den Schatten der anderen ihren Erinnerungen nachspürte, hatte Jonas Teil am Leben. Er hatte schon so viele Schatten gespürt, doch die meisten von ihnen waren hässlich und ihre Wahrheiten bitter gewesen. Denn in den Schatten der Menschen sah Jonas die Wahrheit hinter ihren Lügen. Er sah keine Gesichter, keine Masken, sondern die unverfälschte Wirklichkeit. Er schmeckte die Ablehnung im Schatten seiner Mutter und den Zorn in dem ihres neuen Freundes, der sich vom lüsternen Faun nur darin unterschied, dass dieser hier seinen Zorn zu unterdrücken verstand.
    Die Bitterkeit all dieser Lügen machte Jonas traurig. Die Menschen waren nicht, was sie schienen. Und darum hatte er gelernt, sich vor ihren Schatten zu verschließen, wann immer er wollte. Meist fühlte sich Jonas mehr als Schatten denn als Mensch. Norman aber war anders. Selbst seinen Lügen wohnte etwas Unschuldiges inne. Wenn er behauptete, die Würstchen nicht gegessen, die Murmeln nicht gestohlen oder irgendeine Scheibe nicht eingeworfen zu haben, dann bedurfte es meist nicht einmal seines Schattens, um die Wahrheit hinter der Lüge zu erkennen. Denn Norman Fiedler war selbst zum Lügen zu einfältig. Und darum liebte Jonas seinen Freund beinahe ebenso sehr wie seinen Hund und seinen eigenen Schatten.
    Aufmerksam beobachtete Norman weiter, wie Jonas das Querkraut zu bändigen versuchte.
    »Da drüben, da stehen noch ein paar falschrum.« Norman dirigierte seinen Freund mit dem Zeigefinger zu einem anderen Teil des Beetes. Er staunte immer wieder, was Jonas mit den Schatten anstellte. Und er hatte längst verstanden, dass er darüber mit niemandem sprechen durfte. Die Fähigkeiten seines Freundes waren ihr gemeinsames Geheimnis, ein großes und bedeutendes Geheimnis, das wusste Norman trotz seiner Einfältigkeit. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sich die Schatten der Halme meist nur wenige Tage später in die andere Richtung zurückgedreht hatten. Norman Fiedler, der einzige Mensch im Bund der Beschützer Jonas Mandelbrodts, glaubte an seinen Freund. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Jonas einmal große Dinge vollbringen würde.
    »Und hier, hier sind auch noch welche.« Mit diesen Worten setzte er sich ins Gras und versuchte, selbst nach den Schatten der Halme zu greifen. Doch er bekam sie nicht zu fassen. Stattdessen legten sie sich, den Gesetzen der Logik folgend, über seine Finger. Frustriert versuchte er es wieder und wieder. So wie er es seit Jahren tat, seit er seinen Freund das erste Mal dabei beobachtet hatte.
    Nun war es Jonas, der

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