Der letzte Schattenschnitzer
Norman zusah, ihn dabei beobachtete, wie er an den Schatten verzweifelte und langsam wütend wurde. Jonas wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sein Freund anfing zu weinen. Und darum tat er, was er immer tat, um eben das zu verhindern.
Nur ein Blick in Argos’ Richtung war nötig, und der Hund kam zu den beiden Jungs hinübergetrottet. Jonas streichelte ihn mit der Rechten, während er mit der andere Hand sachte in den Schatten des Setters griff und etwas daraus hervorzog. Es war Herr Brummbold. Oder besser gesagt sein Schatten. Jonas nahm ihn, schloss die Augen und konzentrierte sich einen kurzen Moment lang. Dann ließ er ihn los, und der Schatten des Bären begann plötzlich zu tanzen. Und Norman Fiedler, der gerade noch an den störrischen Schatten des Querkrauts verzweifelt war, lächelte. Er klatschte in die Hände, als Herrn Brummbolds Schatten ungelenk durch das Beet in Richtung des Zaunes tänzelte. Lachend raffte der dicke Junge sich auf und lief dem tänzelnden Schatten nach, während Jonas sich wieder den Halmen zuwandte.
Gleich darauf aber hielt er in der Bewegung inne. Er drehte seinen Kopf und schaute fragend auf seinen Schatten herab. Argos begann zu knurren, und Jonas, der kurz seinem Schatten zu lauschen schien, runzelte verwundert die Stirn. Dann begannen seine Augen mit einem Mal, verstört hin- und herzuhuschen. Das Knurren des Hundes wurde lauter, wurde zu einem Bellen. Jonas drückte sich vom Boden hoch und stand langsam auf, wobei er sich unsicher umblickte. Nur Norman, der noch immer mit dem Schatten des Teddys spielte, bemerkte nicht, dass in den Schatten irgendetwas vor sich ging …
Und dann, ganz plötzlich, war er da. Der Schattenhenker. Ein menschlicher Schatten, der unter dem Gartenzaun hervorschoss und sich sofort auf den Schatten des Teddys stürzte. Wütend und laut bellend stürzte Argos herbei, bekam aber den fremden Schatten nicht mit den Zähnen zu fassen. Jonas sah Brummbold in den Fängen des Eindringlings, und im gleichen Moment wusste er, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Der dunkle Schemen grub seine Klauen tiefer in das Abbild des Teddys, das im nächsten Augenblick mit einem furchtbaren Geräusch zerriss. Obwohl es nur in der Finsternis des fremden Schattens erklang, konnte auch Jonas es hören. Hilfesuchend starrte er auf seinen eigenen Schatten hinab, und dann wusste Jonas mit einem Mal, was er zu tun hatte. Das Baumhaus!
Der Junge hastete los. Im Laufen drehte er sich zurück und schrie angsterfüllt über seine Schulter: »Norman!«
Sein Freund stand wie erstarrt da und starrte ungläubig auf den fremden Schatten, der die Reste des Teddys hinunterschlang. Norman konnte die finsteren Fänge sehen, die sich gierig in den Schatten des Bären gruben. Und ohne dass er es recht verstand, ahnte er doch mit einem Mal die Schrecken, die sich im unergründlichen Dunkel der geheimen Welt von Jonas Mandelbrodt verbargen.
Der Ruf des Freundes löste Norman aus seiner Starre. Er fuhr herum, sah Jonas auf den Baum zueilen und verstand. Als er sich gleich darauf schwerfällig in Bewegung setzte, beendete der Schatten sein eigentümliches Mahl. Der Schattenhenker hielt inne, schien die Lage zu sondieren, Ausschau zu halten. Dann bemerkte er Jonas, der in Richtung des Baumhauses floh, spürte die Bereitschaft des Schattens, seinen Herrn zu verteidigen, und dann zuletzt den Atem des Hundes auf sich. Sie würden ihn nicht aufhalten. Weder der Schatten noch der Hund. Er war gekommen, das Gleichgewicht wiederherzustellen, dem Leben Jonas Mandelbrodts ein Ende zu setzen und damit die Menschheit zu retten. Er hatte in seinem Leben weit bedeutendere Menschen als diesen Knaben getötet …
Vom Schrei ihres Enkels alarmiert, kamen Jonas’ Großeltern an den Zaun gelaufen und starrten verwundert in Richtung des Baumhauses. Seine Mutter ließ von Werner ab, streifte sich hastig etwas über und trat ans Fenster ihres Schlafzimmers. Ein Haus weiter schaute ein anderer Nachbar von seinem Rasenmäher auf, und auf dem Fußweg an der Rückseite des Grundstücks hielt sogar ein fremdes Pärchen mit Kinderwagen inne. Sie alle hatten den Schrei gehört, den Jonas in Richtung seines Freundes ausgestoßen hatte, und die Verzweiflung darin gespürt. Alle ahnten, dass gerade irgendetwas Schreckliches geschah.
Doch mit ihren menschlichen Augen war nichts Schreckliches auszumachen. Sie sahen und sie hörten nichts, was den Schrei hervorgerufen haben könnte. Dort im Garten waren nur
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