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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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beschlossen. Geht hinaus und schützt eure Siegel, während der Henker sich der Kinder annimmt. Auf dass die Grenze zwischen den Welten wieder klar werde!«
    Kaum waren diese Worte in ihrer Finsternis verhallt, strebten die Schatten wieder auseinander, die groben Stufen empor, an den steinern Wänden entlang, hinaus in die Welt, jeder zurück zu seinem eigenen Körper.

    Als der Rat der Schatten seinen Tod beschloss, war Jonas Mandelbrodt knapp acht Jahre alt. Zur gleichen Zeit dachte seine Mutter darüber nach, ihn in eine Schule für schwer erziehbare Kinder zu geben. Sie wusste zwar, dass dieses spezielle Institut nicht wirklich das richtige für ihren Jungen darstellte, aber die nächste ähnliche Schule lag über zweihundert Kilometer entfernt. Um ihn dort einzuschulen, hätte sie umziehen müssen, was allein schon ihre Eltern niemals zugelassen hätten. Abgesehen davon hatte sie gerade erst Werner kennengelernt, einen Fernfahrer, der anders war als all die Männer zuvor in ihrem Leben. Einer, mit dem sie sich seit langem wieder wirklich eine Zukunft vorstellen konnte.
    Außerdem versuchte sie sich einzureden, dass Jonas auch in jener Schule gut aufgehoben sein und dass er sich zwischen den Kindern wohl fühlen würde. Denn sie waren anders. So wie auch er anders war. Natürlich waren sie anders anders, aber Jonas’ Mutter, die den Eindruck hatte, dass normale Kinder ihren Sohn irritierten, ging dennoch davon aus, dass es für ihn dort leichter sein würde.
    Wenn sie Jonas beobachtete, wie er dort hinter dem Haus im Gras spielte und apathisch zu Boden starrte, dann ertappte sie sich manchmal dabei, dass sie wünschte, er wäre nie geboren worden. Meist passierte das, wenn sie getrunken hatte. Und dann ärgerte sie sich darüber, dass Jonas immer nur schwieg und noch immer nicht Mama zu ihr gesagt hatte. Sie sprach mit niemandem über diese Gedanken, und meist schämte Ruth Mandelbrodt sich wenig später so sehr, dass sie Werner fortschickte und Jonas während der nächsten Tage mit Schokoladeneis fütterte und ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen versuchte. Seit Werner da war, trank sie öfter. Sie tranken zusammen und schmiedeten gemeinsam Pläne für die Zukunft. Vor kurzem hatte er sie sogar gefragt, ob sie mit ihm weggehen würde. Nach Amerika vielleicht. Oder Kanada. Aber sie hatte nein gesagt. Nicht, solange ihre Eltern noch lebten und Jonas sie brauchte. Doch während sie nein sagte, sehnte sie sich tief in ihrem Inneren nach der Freiheit der Ferne. Danach, neben Werner im Führerhaus seines LKWs zu sitzen und Jonas und ihre Eltern ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Doch auch für diesen Gedanken schämte sie sich. Und um sich nicht noch mehr schämen zu müssen, trank sie noch mehr …
    Das waren die Momente, in denen sie Jonas aus den Augen verlor. Doch ganz gleich, ob sie nüchtern oder betrunken war, sie hätte ohnehin nicht verstanden, was ihr Sohn tat, wenn er dort draußen im Gras saß, die Schatten des Querkrauts von der Sonne fortbog und den Worten seines Schattens lauschte. Von ihm lernte er die Magie der Schatten und machte sich, unbemerkt von den Menschen, die ihn umgaben, mit seiner Hilfe bereit für seine Bestimmung: dem Schicksal und den Gesetzen der Schatten zu trotzen.
    Während Jonas Mandelbrodt lernte, umschlich ihn der treue Argos. Der Irish Setter war alt und das schimmernde Rot seines Fells mit den Jahren blass geworden. Das blinde Auge funkelte trübe, das andere aber hielt der Hund unablässig auf den Jungen gerichtet. Wenn irgendjemand genauer hingesehen hätte, dann hätte er wahrnehmen können, dass sogar die Schatten von Hund und Kind in einem sonderbaren Wechselspiel standen. Dass sie sich – egal wie der Stand der Sonne war – gegen alle Regeln der Vernunft vermischten.
    Und hätte einer noch genauer hingesehen, einer, der darüber hinaus noch die geheimen Gesetze der Schatten kannte, dann hätte er tatsächlich bemerkt, wie diese beiden Schatten sich miteinander austauschten. So lautete ihr vor Jahren getroffenes Abkommen, denn beide waren besorgt um ihren Herrn. In ihnen schwelte eine Furcht vor derart eigentümlichen Dingen, dass sie in der Welt der Menschen nicht einmal einen Namen hatten, also waren sie auf der Hut. Längst hatte der Schatten Jonas Mandelbrodts vernommen, dass die Welt der seinen in Aufruhr war. Die Schatten raunten von Ripley, dem Italiener und dem Eidolon … Das Gleichgewicht war ins Wanken geraten, und das bedeutete, dass der Rat der

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