Der letzte Schattenschnitzer
anderen glitten sie die alte Eiche hinab, so dass der Henker nach und nach wieder auf seine eigentliche Größe reduziert wurde.
Und während er auf diese Art schrumpfte, glitten seine Zähne aus mir heraus. Auch die schwarzen Knebel rutschten aus den Mündern der Kinder. Die Schatten flossen den Stamm der Eiche hinab, strebten zu ihren Herren zurück und legten sich ihnen – als wäre nichts geschehen – wieder zu Füßen. Obwohl er von mir abgelassen hatte und wir nicht mehr miteinander verbunden waren, spürte ich die Irritation des Schattenhenkers ob dieses plötzlichen Angriffs. Ich fühlte, wie er mit dem Eindringling rang, und dann, wenig später, ergriff er die Flucht!
Ich war im Inneren des Henkers gewesen, ich hatte all jene wahrgenommen, die ihn formten. Doch jenen anderen, der uns zu Hilfe geeilt war, hatte ich nicht erkennen können. Wessen Schatten es auch gewesen sein mochte, er besaß die Macht, sein Wesen zu verbergen. Und das selbst vor einem Angehörigen des Rates …
Der fremde Schatten war mit dem des Henkers verschwunden. Zurück blieben mein Herr und sein blutender Freund, die sich verängstigt aneinanderklammerten. Und noch etwas anderes, denn unser Helfer hatte uns eine Botschaft hinterlassen. Ein einziges Wort, das er mit Schatten auf die hölzerne Bretterwand des Baumhauses geschrieben hatte. Ein Name, um dessen Bedeutung ich sehr wohl wusste. Der Name der Zuflucht des Wächters. Jener Ort, wo sich alle Magie dem Schatten des Engels beugen musste und an dem selbst die Macht des Rates verblasst: Ambrì.
Als Carmen Maria Dolores Hidalgo ihre schwarzen Augen aufschlug, spürte sie einen bohrenden Schmerz in ihrem Kopf. Verwundert hob das kaum dreijährige Mädchen seinen Blick. Maria wirkte wesentlich älter. Sowohl geistig als auch körperlich hätte sie jeder, der sie sah, auf mindestens fünf geschätzt. Das Eidolon in ihr wollte in einem kräftigen, erwachsenen Körper wohnen und sorgte dafür, dass Maria schneller als andere Kinder wuchs. Es musste dafür lediglich Hormone stimulieren und dem Körper Dinge vorgaukeln. Nachdem es verstanden hatte, wie Menschen funktionierten, war das kaum weiter schwer.
In seiner gegenwärtigen Situation aber nützte all dieses Wissen um die menschliche Physis nichts.
Maria versuchte sich zu bewegen, spürte jedoch enge Fesseln, die um ihre Handgelenke und Knöchel lagen und sie am Stuhl festhielten. Der Raum, in dem sie sich befand, war weder der Tempel noch Marias Kinderzimmer. Das Letzte, woran das Eidolon sich erinnern konnte, war der Pilger. Verborgen in Marias Körper hatte es in den Armen von Mama Cervantes gelegen, als der unscheinbare Mann mit dem Rucksack und der runden, silbernen Brille den Raum betreten hatte. Er hatte seine Hand gehoben, und dann hatte plötzlich nur noch Schwärze existiert. Er musste ein Eingeweihter sein. Einer, der die Gesetze der Schatten kannte. Gewiss jedoch kein Mitglied des Rates. Dessen war das Eidolon sich sicher. Denn sonst wäre es mitsamt dem Körper des Mädchens längst dem Gleichgewicht geopfert worden. Wer aber war er dann? Und vor allem, was hatte er mit ihm vor?
Das Eidolon ließ den Blick Marias schweifen. Überall um sie herum gleißte grelles Licht. Der Raum irritierte sie. Wände, Decke und Boden bestanden komplett aus milchig-weißen, von außen beleuchteten Plastikwänden. Überall erstrahlte das Licht, das jeden natürlichen Schatten verblassen ließ. Dieser Raum war ein Gefängnis aus Licht, errichtet für einen einzigen Gefangenen: das Eidolon .
Diese Erkenntnis ließ das Eidolon schaudern. Dem Unbekannten war es nicht um das Mädchen gegangen. Er hatte das Eidolon gewollt. Und nun befand es sich ganz in seiner Gewalt. Spürte, wie die Fesseln sich in Knöchel und Handgelenke seines kindlichen Wirtskörpers gruben und das Licht jeden Gedanken an Flucht zunichte machte. Das Eidolon war gefangen. Mitsamt Maria, seiner menschlichen Hülle. Der Fremde hatte an alles gedacht, und das Eidolon war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert …
Ein leises Geräusch ließ Maria herumfahren. Ihr gegenüber öffnete sich in der weißen, leuchtenden Wand ein schmaler dunkler Spalt, hinter dem ein unerreichbares Dunkel gähnte. Erfolglos versuchte das Eidolon in der Finsternis etwas zu erkennen, als plötzlich ein Mann daraus hervortrat.
Maria musterte ihn von oben bis unten – aufmerksam, genau. Denn das Eidolon wollte wissen, wer seinen Körper entführt und ihn hier gefangen gesetzt hatte. Und es
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