Der letzte Schattenschnitzer
und er drängte von neuem in Richtung des Baumes.
Als Jonas Mandelbrodt schließlich über die letzte Sprosse in das Baumhaus kletterte, schloss sich das Dunkel des Henkers vollends um den Stamm der Eiche. Und dann begann sich die Finsternis am Stamm emporzuwinden. Von Sprosse zu Sprosse sah ich sie auf uns zusteigen, während die Rinde des Baumes sich dunkel zu verfärben begann. Ächzend wuchtete sich jetzt auch Norman über die Schwelle des Baumhauses, blieb schnaufend auf dem Rücken liegen und betrachtete ungläubig seine blutende Wade, auf der sich deutlich die Spuren einer riesigen Pranke abzeichneten.
Die Zeit der Spiele war vorbei, das begriff nun auch Norman. Dieser Schatten war ein durch und durch böser Schatten, und er begnügte sich nicht damit, die Schatten von Spielzeugen zu verschlingen. Mit diesem Schatten näherte sich der Tod. Und ich machte mich bereit, für meinen Herrn zu kämpfen, mich dem Angreifer entgegenzuwerfen und alles zu tun, um ihn aufzuhalten. Selbst wenn das bedeutete, dass er auch mich verschlang.
Ich hatte gewusst, dass dieser Zeitpunkt irgendwann einmal kommen und ich mich dem Willen des Rates entgegenstellen würde. Ich spürte Jonas Mandelbrodt so intensiv wie selten zuvor und glaubte in diesem Augenblick bereits das Ende unseres gemeinsamen Weges gekommen. Ich floss in ihn und er in mich, ich spürte sein Wesen, seine Gedanken, und wir waren einander so nahe wie noch niemals zuvor. In diesem Moment waren wir nicht Lehrer und Schüler, sondern Freunde. Im Angesicht ihres unausweichlichen Endes. Mein Bedauern mischte sich mit dem seinen, und wir machten uns bereit.
Dann berührte mich der Angreifer, und ich erschauderte: Der Rat hatte wahrhaftig einen der seinen geschickt. Jenen Schatten, der seit Hunderten von Jahren in seinem Namen tötete und zerstörte. Zum ersten Mal in meinem langen Dasein spürte ich die unmittelbare Nähe eines Schattenfressers … Wenn es für Jonas Mandelbrodt und mich noch irgendeine Hoffnung gegeben hatte, so schwand sie in dem Augenblick, als der Henker mich zu verschlingen begann.
Norman Fiedler fing an zu schreien. Und Jonas stimmt augenblicklich mit ein. Womöglich würde sie jemand hören, vielleicht würden die Leute in den Garten stürmen, sie retten, vielleicht … Bevor jedoch die Schreie der beiden Jungen überhaupt gehört werden konnten, schossen von den rissigen Bodenbrettern zwei Schattenstränge empor, bewegten sich an den Jungen empor und verstopften ihre Münder. Schattenknebel, die jeden Laut im Keim erstickten.
Fürwahr, der Scherge des Rates war schnell. Er hatte den Schattenmord zur Kunst erhoben. Und auch wenn er im Lauf der Jahrhunderte in seinem Namen Könige und Päpste gerichtet hatte, wussten doch nicht einmal die anderen Schatten des Rates, wie viele Tode der Henker wirklich zu verantworten und wie viele Leben er auf dem Gewissen hatte. Das erkannte ich in dem Moment, als er mich zu verschlingen begann, und ich wusste, dass ich ihm nichts entgegenzusetzen hatte.
Als der Henker nach meinem Herren griff, war es Ruths Schatten, der von mir zehrte, während die seiner Großeltern Jonas und Norman die Münder verstopften. Und noch immer hatte keiner dieser Menschen bemerkt, dass ihm sein Schatten abhanden gekommen war …
Die Gedanken des Henkers durchströmten mich und meinen Herren. Eine wilde Woge dunkler Bilder, die schlussendlich zwei Namen umtosten: Ripley und das Eidolon. Diese Gedanken ließen Jonas schaudern, mich durchfuhren sie heiß und kalt. Dann fühlte ich die Schattenzähne des Angreifers wieder in mir, ein dunkler Schmerz durchzuckte mich. Im Dunkel des Henkers nahm ich den Schatten des treuen Argos wahr, spürte, wie er litt, während der Henker ihn verdaute.
Und dann riss er den ersten Bissen aus mir heraus. Mein Schmerz zuckte bis in den Körper meines Herrn hinauf, unter dessen Schattenknebel ein erstickter Schrei erklang.
Meine Hoffnung war längst zerronnen, als plötzlich das Unmögliche geschah: Als sich nämlich die schwarzen Zähne des Henkers ein weiteres Mal in mich gruben, schmeckte ich mit einem Mal noch etwas anderes in ihm. Zwischen all den fremden Schatten, die er sich zum Werkzeug erkoren und die er in sich aufgesogen hatte, war einer, der gegen den Willen des Henkers in ihn gedrungen war! Und dieser eine war nicht gekommen, ihm zu dienen. Vielmehr griff er den Schattenhenker plötzlich aus seinem eigenen Inneren heraus an und sprengte die fremden Schatten von ihm ab. Einer nach dem
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