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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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wollte wissen, weshalb . Auf den ersten Blick wirkte der Mann noch immer unscheinbar. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, die Ärmel hochgekrempelt, die Unterarme von eigentümlich symmetrischen Narben und Tätowierungen überzogen, die auf den zweiten Blick irritierten. An seiner linken Hand trug er einen einzelnen schwarzen Lederhandschuh. Seinem Gesicht nach zu urteilen, musste der Mann um die Mitte vierzig sein. Falten hatten begonnen, einstmals ebenmäßige Züge zu durchziehen. Er hatte eine prägnante Kurzhaarfrisur, war jedoch unrasiert, seine Kinnpartie von Stoppeln übersät. Die Augen hinter seiner kleinen, runden Brille waren wach, von einem farblosen Grau, das auf eine seltsame Art beunruhigend wirkte.
    Jetzt erkannte das Eidolon ihn wieder. Wie sehr hatte es sich auf der Hacienda Hidalgo in Sicherheit gewiegt. Es hatte sich diesen Ort ausgesucht, um in Ruhe zu wachsen, und darüber war es nachlässig geworden. Wäre es auf der Hut gewesen, hätte es den Mann bereits in dem Moment erkannt, als er den Thronsaal betrat. Obwohl es sich hier des Lichtes wegen nicht mit seinem Schatten mischen konnte, spürte das Eidolon die Aura des Mannes. Es kannte sie gut: Es war die jenes Mannes, der schon im fernen Kutna Hora versucht hatte, es in seine Gewalt zu bringen. Der, dem es schon einmal entkommen war! Bevor es in die Welt geflohen war und sich diesen Körper gesucht hatte.
    Und als es nun genauer hinschaute, erkannte das Eidolon durch die Augen des Mädchens auch die Zeichen auf seinen Armen. Es waren alte Zeichen, wie auch Mama Cervantes sie gekannte hatte. Zeichen, welche die Schatten beherrschen und vor ihnen schützen sollen. Es befand sich also wirklich in der Gewalt eines Schattensprechers. Sein Entführer war einer jener wenigen Wissenden, die den Schatten ihren Willen aufzwingen können. Tief in seinem dunklen Selbst erinnerte es sich an seinen Schöpfer …
    Doch es würde sich zu nichts zwingen lassen, keinem Menschen zu Diensten sein! Denn es war nicht geschaffen, zu dienen!
    Marias Körper zerrte an seinen Fesseln, blinzelte ins Licht. Und in seinem Inneren rumorte Zorn. Es war in Kutna Hora seinem gläsernen Gefängnis entkommen, durch die Welt geflossen, hatte über Jahre beobachtet und gelernt. Es hatte sich zwischen den Schatten verborgen, von ihnen gezehrt und gelernt und ihr Wissen in sich aufgenommen. Und schließlich hatte das Eidolon sich erst an Tieren und dann an Menschen erprobt … Doch eine menschliche Seele aus ihrem Körper zu verdrängen hatte sich bald schon als völlig unmöglich erwiesen. Der einzige Weg, einen Menschen zu beherrschen, war der gewesen, seiner Seele zuvorzukommen.
    Und so war das Eidolon schließlich, kaum dass sie geboren war, in den Körper Carmen Maria Dolores Hidalgos gedrungen. Es erinnerte sich genau. Anstatt dass das Schicksal ihr im Moment ihrer Geburt einen gewöhnlichen Schatten an die Füße geheftet hatte, war, bevor noch die zarte Menschenseele ihren Weg gefunden hatte, das Eidolon in sie gefahren. Es war so leicht gewesen. Sobald das Eidolon sich mit den anderen Schatten mischen und sie davon erfahren würden, wie einfach es war, würden bald alle Schatten ihre Menschen beherrschen können. In all den Tausenden von Jahren, die sie den Menschen nun schon dienten, hätten sie ihre Herren ohne weiteres zu verdrängen vermocht. Es bedurfte nur des Wissens durch das Eidolon und der Bereitschaft, die alten Gesetze zu brechen …
    Dass es nicht geschaffen worden war, um zu dienen, wusste das Eidolon in dem Moment, als es im Dunkel des kleinen, fleckigen Krankenhausbettchens an dem winzigen Körper emporgekrochen war und sich in ihn hineingeschlichen hatte. Das Leben selbst hatte ihm den Weg geebnet. Mit dem Atem des Kindes war es in seinen Körper gedrungen, und die kleinen zitternden Nasenlöcher hatten den falschen Schatten mit der Luft eingesogen. Von einem Moment auf den nächsten war das kindlich Blassblau seiner Augen einem tiefen Schwarz gewichen. Seinem Schwarz, dem des Eidolons, das im gleichen Moment in alle Glieder, alle Fasern und jede Zelle des Mädchens gedrungen war. Staunend hatte es bald begonnen seine , oder besser ihre Finger zu bewegen. Die Finger, die Arme, die Beine, es hatte den Kopf gedreht, geatmet, gelebt! Noch jetzt durchflutete es ein triumphales Gefühl, wenn es sich daran erinnerte. Oh ja, dieser Körper gestattete es ihm, Gefühle zu haben. Er fühlte, wusste, spürte. Lebte. Von einem Moment auf den nächsten waren

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