Der letzte Schattenschnitzer
anderen Dunkel geschaffen als die üblichen Schatten. Diesen Körper aber wollte es nicht aufgeben. Und so blieb das Eidolon in Maria. Beinahe als ob es wüsste, dass diese Form die einzige war, mit deren Hilfe es sein unheiliges Ziel würde erreichen können. Und so ließ es seine neu gewonnene Kraft in die kleinen unbeholfenen Finger fließen und begann seine Fesseln zu lösen, um zu tun, was Erzsebet Stiny ihm aufgetragen hatte.
Beinahe lautlos huschte das Eidolon im Körper des Kindes die Treppe hinauf und aus der einstmals blauen Hütte. Im unruhigen Schein der Petroleumlampe war sein Peiniger zu tief in die Schattenschriften versunken, als dass er den Ausfall des Generators bemerkt hätte. Maria tapste durch das morgendliche Zwielicht. Am Zaun entlang, von einem Katzenschädel zum nächsten, die sie, einen nach dem anderen, herabzerrte, um sie zu zerbrechen. Und mit jedem weiteren Bannzeichen, dessen Kraft erlosch, gewann der Schatten Erzsebet Stinys im Inneren der Hütte an Kraft, bis er schließlich über die Schwelle in das Zimmer glitt, in dem ihr Sohn über seinen Büchern brütete. Sie floss über den Boden. »Und nun bin ich gekommen, um zu ernten.«
In diesem Moment begriff Cassus. Es ging nicht um ihn selbst, das war es nie. Sie war gekommen, um seinen Schatten zu holen. Jetzt versuchte er, sich zu wehren, doch zu eng lagen die Schatten um seine Glieder. Verzweifelt wand er sich auf seinem Stuhl, und dann sah er sie.
Maria stand in der Tür und musterte ihn mit einem kalten Blick aus ihren tiefschwarzen Augen.
»Sei stolz, mein Sohn, denn du wirst einem größeren Zweck dienen, als du dir je erträumt hast«, flüsterte Erzsebets Stimme in seinem Kopf.
Dann trat Maria an den Tisch, ließ ihren Blick über die Bücher schweifen, griff nach dem dunkel schimmernden Schattenspalter und beugte sich zu Cassus’ Füßen hinab.
Don Inigo Hidalgo hatte sich mit einem Dutzend seiner Männer auf den Weg in die mexikanische Wüste gemacht.
Seinen Ratgeber Ruiz, dem er seit der Entführung seiner Tochter nicht mehr recht traute, hatte er auf der Hacienda zurückgelassen. Und auch er selbst wäre gerne dort geblieben. Es widerte ihn an, in die Nähe von Yucca Verde zurückkehren zu müssen und an die Armut erinnert zu werden, der er entstammte. Sie waren mit zwei protzigen Lowridern und einem Landrover gekommen. Eskortiert von den Grenzbeamten, die sie im Rahmen des Drogenschmuggels schmierten. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Mit abgesägten Schrotflinten, Macheten und Maschinenpistolen.
Im Traum hatte die Stimme eines Engels zu Inigo gesprochen und ihm den Ort gezeigt, an dem der Entführer seine Tochter gefangen hielt. Und dann noch einen zweiten, an den er sie bringen sollte, sobald er Maria befreit hatte. Den zweiten Teil seines Traumes hatte er seinen Männern jedoch verschwiegen und sich genau genommen sogar Mühe gegeben, ihn, soweit es ging, selbst zu verdrängen.
Die Wagen donnerten über die Wüstenstraße. Sie waren bereits die halbe Nacht unterwegs und wirbelten Sand in der Finsternis auf. Die Geschwindigkeitsbegrenzung scherte sie nicht. Niemand würde sie aufhalten, weder die Polizei noch irgendjemand sonst. Nicht hier, wo man Inigo Hidalgo kannte und wusste, was er mit Leuten tat, die sich ihm den Weg stellten.
Hidalgo saß auf dem Beifahrersitz des Landrovers. Sein schwarzes, kurzärmliges Hemd mit dem Flammenaufdruck glänzte vor Schweiß. Die meiste Zeit über schwieg er und malte sich aus, was er mit dem Entführer seiner Tochter tun würde. Wobei Maria mehr war als nur seine Tochter. Sie war sein Kapital. Und wenn der Entführer das beschädigt hatte, würde er ihn mehr als bloß umbringen. Mit grimmigem Blick polierte Don Inigo seinen goldenen Revolver. Oh ja, er würde dem Bastard geben, was er verdiente. Bis sein beschissenes Magazin, gottverdammt noch einmal, leer war …
Er wies seinem Fahrer den Weg aus seinem Traum, die anderen Wagen folgten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er Maria wieder nach Hause bringen könnte, zurück in den Tempel. Dies war eine Prüfung, die Gott ihm auferlegt hatte. Andächtig küsste er seinen goldglänzenden Revolver und schob ihn in sein Schulterholster. Dann zog er einen Rosenkranz hervor und begann zur Santisima Muerte dafür zu beten, dass es seiner Tochter gutging.
Es gelang ihm, diesen vier Mal zu beten, bevor Cassus’ Anwesen in Sicht kam. Sie sahen es bereits aus der Ferne. Das Haus brannte lichterloh. Das Blaulicht von
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