Der letzte Schattenschnitzer
Feuerwehr und Polizei mischte sich mit dem Licht der Flammen und erhellte die Nacht. Den Widerschein des Feuers hatten sie schon länger gesehen, in dem Moment aber, da er begriff, dass es der Ort aus seinem Traum war, der dort brannte, zeichnete sich in Don Inigo Hidalgos Gesicht blankes Entsetzen ab. Außer sich befahl er seinem Fahrer, zu beschleunigen.
Kurz darauf kam der Landrover zwischen zwei Löschfahrzeugen zum Stehen. Schon sprang Hidalgo aus dem Wagen und rannte, ohne sich umzusehen, auf die Reste des brennenden Hauses zu. Einige Feuerwehrleute wollten ihn aufhalten. Er stieß sie einfach beiseite und hastete weiter. So weit, wie es das Feuer zuließ. Doch wenige Meter vor der Hütte wurde die Hitze unerträglich. Don Inigo musste erkennen, dass nichts mehr zu retten war. Das Haus war beinahe völlig niedergebrannt. Die Reste der Balken glommen rot, in der Glut konnte er eine verkohlte Laterne und die Überreste einiger Bücher erkennen. Inigo Hidalgo brach in die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Er konnte es nicht glauben. Sollte dies das Ende sein? Wollte Gott ihn wirklich ohne ein Zeichen seiner Gnade dem Drogenhandel überlassen?
Und da hörte er plötzlich leise die Stimme seiner Tochter in seinem Rücken.
»Papa?«
Ungläubig fuhr er herum und blickte auf das Kind, das mit wirren Haaren und einer Decke um die Schultern neben einem Feuerwehrmann stand. Mit großen Augen starrte sie ihn an. Hinter ihr und dem Feuerwehrmann sah Hidalgo zwei verkohlte Leichen, die gerade von einigen Polizeibeamten in Plastiksäcke verpackt wurden. Dann aber zuckte sein Blick wieder zu Maria. Ihre Haare waren angesengt, ihre Haut schwarz von Ruß. Hidalgo rappelte sich auf und stürmte auf sie zu. Noch bevor er das Kind in seine Arme schließen konnte, stutzte er. Denn im Schein der Fackeln konnte er deutlich den Schatten seiner Tochter erkennen. Maria besaß einen Schatten .
Als er seine Tochter schließlich umarmte, war für Don Inigo Hidalgo eine Welt zusammengebrochen.
Gott hatte sich von ihm abgewandt.
John Dee
ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
Kapitel XXIII
(Seite 264 f.)
VOM WÄCHTER
E in einziger wahrhafter Schatten aber existiert in unserer sündigen Welt, der nicht hineingehört. Denn er ist, was blieb von jenem, der einst alles erschuf. Kaum einer, nicht einmal von den Gelehrten und Religionskundigen, vermag zu sagen, seit wann Gott unsere Welt verlassen hat. Dass er aber fort ist, darin sind Kirche und Wissenschaft sich einig. Allein sein Statthalter in Rom ist den Gläubigen geblieben. Er und jener Schatten, von dem in diesem Abschnitt die Rede sein soll.
Letzterer ist der Schatten eines Engels, das einzig verbliebene wahrhafte Zeugnis Gottes auf Erden. Aus sich selbst heraus erschuf er die Ordnung der Engel, sie alle schwanden mit ihm. Bis auf den Schatten dieses einen, der in den Bergen thront und sich eine Zuflucht errichtete, in der er allein über die Schatten gebietet. Dort wacht er über den Willen Gottes, den keiner kennt wie er, denn als Einziger auf Erden hat er den Schatten des Herrn gespürt.
Der Name seiner Zuflucht ist Ambrì, und sein Wort ist dort Gesetz. Und drängt es einen, den Willen Gottes zu erfahren, begibt er sich in jene Berge, den Wächter zu befragen …
10.
Life is gonna be we-wow-whee!
For my shadow and me!
Frank Sinatra
(1915-1998)
In Me and my Shadow
W ährend der Ort selbst im Schatten der Berge blieb, sah man von Ambrì aus in der Ferne die Sonne aufgehen. Jonas Mandelbrodt saß neben Malachias auf der Schwelle der Hütte und beobachtete die Schattenkrähen, die über ihnen ihre Kreise zogen. Während der letzten Monate war dieser Ort ein Zuhause für ihn geworden.
Jeden Tag hatte Jonas unter dem strengen Blick des alten Malachias gelernt. Im Körper des Alten hatte der Schatten des Engels Jonas bald größere Geheimnisse offenbart als sein eigener Schatten zuvor – wie er sich vor den Schatten verbergen, sich in ihnen bewegen, ja in ihnen reisen konnte. Der Wächter bediente sich Malachias’ Körper aus Rücksicht, weil Jonas es noch nicht gewohnt war, ausschließlich in den Schatten zu reden, und noch immer an die Welt der Körper glaubte. Der Junge fühlte sich wohl. Er blickte zur Sonne, deren Strahlen den Ort doch nicht erreichen würden. Denn hier herrschten die Schatten.
Jonas Mandelbrodt genoss das Vertrauen des Wächters und konnte sich in Ambrì uneingeschränkt bewegen. Nur in den Keller der Hütte ließ
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