Der letzte Schattenschnitzer
überwinden lernst, Jonas Mandelbodt.«
Kaum dass der Angesprochene sich in den alten Ohrensessel neben dem Fenster gesetzt hatte, legte der Wächter sich über ihn. Der Junge spürte den aufkommenden Sog, nahm wahr, wie der Schatten des Engels seinen eigenen verschluckte und wie der Sog stärker wurde und an ihm zu zerren begann.
»Dein Wesen wird sich mit meinem Dunkel mischen, und gemeinsam werden wir durch die Welt reisen. Frei von den Grenzen der Körperlichkeit und der Vernunft.«
Der Junge schloss die Augen, öffnete sich der fremden Kraft. Und dann verschwand sein Selbst im Inneren des Wächters. Aus seinem Schatten heraus blickte Jonas noch einmal auf seinen Körper, im Sessel neben dem Fenster. Es war ein sonderbares Gefühl, sich selbst so leer zu sehen. Im nächsten Moment aber trat der Wächter gemeinsam mit ihm aus der Tür, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft.
Jonas Mandelbrodt reiste im Schatten des Engels.
In schwindelnder Höhe schossen sie unter stummem Flügelschlag über den Himmel. Unter sich, in unendlicher Ferne, fühlte der Junge die Welt. Er nahm sie mit anderen Sinnen wahr, sah sie mit den Augen eines Schattens.
Der Wächter durchmaß die Wolken, verdunkelte den Himmel und bahnte sich seinen Weg durch wilde Vogelschwärme. Bis der Schatten des Engels schließlich im Licht der Abenddämmerung über London zur Landung ansetzte und Jonas ein weiteres Mal seine Stimme in sich vibrieren hörte.
»Bevor wir dem Ältesten begegnen, möchte ich, dass du noch etwas anderes siehst.«
Langsam senkten sie sich über der Themse hinab und folgten dem Lauf des Flusses. Dämmerung wucherte über die Stadt. Big Ben schlug acht, und langsam wich der Schatten des Clocktowers auf dem Fluss dem gleichmäßigen Dunkel des Abends, gegen das der Schatten des Engels sich sachte abhob.
»Gleich, Jonas, wirst du eines der Siegel erblicken. Es liegt hier, hinter den Mauern dieser Stadt. Und du solltest es sehen, bevor es bricht.«
Jonas stutzte.
»Bevor es bricht?«
»Oh ja. Es hat bereits begonnen. Das erste Siegel wurde bereits zerstört. Bald wird auch dieses gebrochen werden. Erst Frankreich. Nun England. Die alten alchemistischen Hochburgen Europas. Mit jedem weiteren schwindet die Macht des Rates, und mit ihm die Ordnung der Dinge. Und ich will, dass du die Zusammenhänge verstehst, bevor sie sich ändern …«
Der Schatten des Engels schwebte nun direkt über den Häusern. Unter sich konnte Jonas Menschen erkennen, die versuchten, das Dunkel aus den hell erleuchteten Straßen zu verbannen und die Stadt am Schlafen zu hindern. Geschäftig irrten sie im Widerschein der Neonreklamen umher, und es schien für sie keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht zu geben. Die ganze Stadt war hell erleuchtet und schien dabei das Licht weit mehr zu lieben als die Schatten.
Wenig später legte der Schatten des Engels sich über grobes Kopfsteinpflaster. Er war im Südwesten Londons auf einem kleinen, von alten Häusern umgebenen Platz im Zentrum des Stadtteiles Fulham gelandet. Und Jonas, der im Dunkel inzwischen weit mehr wahrnahm als früher, spürte die Nähe mächtiger Schatten. Es war beinahe wie damals, als er und sein Schatten Mademoiselle Stiny begegnet waren. Doch da war auch noch etwas anderes. Etwas Neues. Das vage Gefühl einer starren, in der Dunkelheit gebündelten Kraft. Das musste das Siegel sein …
Der Platz, auf dem Jonas und der Wächter sich wieder mit dem Boden verbanden, grenzte an einen alten Friedhof und war von rostigen Laternen umstanden, die vor langer Zeit einmal mit Gas betrieben worden waren. Ihr schwaches, inzwischen elektrisches Licht spiegelte sich auf dem unebenen Pflaster und beschien in einiger Entfernung einen grauen VW-Transporter, der vor der Friedhofsmauer parkte. Der Wagen war umgebaut und sein Seitenteil mit zwei großflächigen Schiebetüren versehen worden, die beide in diesem Moment weit offen standen. Und auf den Türen, über dem Bild eines stilisierten Harlekins im Jugendstil, stand in geschwungenen Buchstaben: Skuggas Shadow Theatre.
Zwischen den Türen war eine Leinwand aufgespannt, auf die ein warmes Licht die unruhigen Schatten seltsamer Figuren warf, denen der ominöse Skugga Leben einhauchte.
Vor dem Wagen hockte auf hölzernen Kisten und verzogenen Klappstühlen ein halbes Dutzend abgerissener Kinder in schmutzigen Kleidern. Überwiegend Jungen, mit laufenden Nasen, wundgescheuerten Knien und verklebten Haaren. Burschen aus
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