Der letzte Schattenschnitzer
der Gegend, deren Eltern weder Arbeit noch Zeit hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Tagsüber zogen sie auf der Suche nach möglichen Opfern in kleinen Gruppen durch die verwinkelten Gassen. Dreiste Taschendiebe, die keine andere Chance hatten, als sich ihren Lebensunterhalt zu erbetteln oder zu stehlen. Die meisten von ihnen wurden regelmäßig festgenommen, aber schnell wieder auf freien Fuß gesetzt, weil sie minderjährig waren. Unter den Kindern waren auch zwei Mädchen mit langen Haaren und verschlagenen Gesichtern. Sie waren wie Erwachsene geschminkt und sprachen ungern darüber, wie sie in den Straßen ihr Geld verdienten.
Hier aber, in diesem Moment, als sie dort vor dem Lieferwagen des Schattenspielers saßen, waren sie allesamt Kinder. Und für einen kurzen Moment hatten sie sogar die Cineplex Kinos und Plasmafernseher vergessen, von denen sie gewöhnlich träumten. Stattdessen lachten sie laut über die seltsamen Figuren auf der Schattenleinwand: hässliche Monster, ein mächtiger Zauberer und sogar eine hübsche Prinzessin, deren Konturen sich scharf auf dem hellen Stoff abbildeten. Sie alle bewegten sich, schienen dabei wie von einem eigenen Leben erfüllt, und ihre Schlichtheit reichte aus, die Augen dieser Kinder, allen Widrigkeiten der Gosse zum Trotz, zum Leuchten zu bringen.
Hinter der Leinwand war der Schattenspieler zu hören. Er besaß eine eigentümlich respektlose Stimme. Was immer er sagte, so schien sie dabei von einem unterschwelligen Lachen erfüllt. Und dennoch gelang es ihm damit, jedem Schatten eine eigene Stimme zu verleihen.
Während er die Schatten tanzen ließ, entging Skugga trotzdem nicht, dass der Schatten des Engels auf dem Platz gelandet war. Er war nicht verwundert; in Zeiten wie diesen geschah vieles, das zuvor unmöglich geschienen hatte. Und wenn dieser Tage jemand durch die Welt streifte und die Siegel des Rates brach, dann war es auch möglich, dass der Wächter Ambrì verlassen hatte …
Eilig brachte der Schattenspieler sein Stück zu Ende. Er liebte es, die Menschen mit seinem Schattenspiel zu berühren, zum Nachdenken oder zum Lachen zu bringen. Und dafür brauchte er weder Puppen noch Figuren. Denn auch wenn das, was er tat, von der anderen Seite der Leinwand wie gewöhnliches Schattenspiel aussah, formte Skugga die Figuren doch allein aus seinem eigenen Schatten. Er löste sie aus sich heraus, verformte sie, gab ihnen jede Gestalt, die er wollte, und warf sie schließlich auf die Leinwand. Er war der König der Schattenspieler und spielte mit ihnen, wie es wohl kein anderer seiner Zunft jemals getan hatte.
Keiner seiner Zuschauer ahnte, dass er seine Figuren in Wirklichkeit mit Magie formte. Skugga hatte sich sein Lebtag mit dem Schattenspiel beschäftigt. Er schien kaum älter als dreißig zu sein, war in Wirklichkeit aber weit über neunzig. Wie der Rest des Rates zehrte er von der Kraft der Schatten und alterte nicht wie gewöhnliche Menschen. Zeitlebens aber war er immer ein Narr gewesen, stets der Spieler, der kaum etwas ernst nahm. Somit war seine Rolle im Rat der Schatten seit eh und je die des Zweiflers. Sein Siegel aber, das hinter der Mauer auf dem Grab des Alchemisten stand, würde er mit allem nötigen Ernst schützen. Denn das Ende der Welt fürchtete er wie alle anderen auch. Was blieb einem wie ihm zu verhöhnen, wenn die Welt mit allem darin unterging?
Und während der Wächter seinen Wagen umrundete, ließ Skugga seine Schatten zum Schlussakkord tanzen. Vor den Augen der Kinder verwandelte der Zauberer eines der Monster in einen Prinzen, der daraufhin sein Schwert zückte, im Handumdrehen die übrigen Schattenungeheuer besiegte und die Prinzessin befreite. Dann war das Stück vorüber.
Artig applaudierten die Kinder und putzten sich ihre Nase mit dem Ärmel ab. Dann trotteten sie, eines nach dem anderen, vom Platz und verschwanden im Dunkel der Gassen. Skugga ließ die Figuren verschwinden. Der Zauberer und die anderen zogen sich in den Schatten ihres Herrn zurück.
Lächelnd schob der Schattenspieler die Leinwand zusammen und stieg aus dem Wagen. Das wirre blonde Haar fiel ihm ins unrasierte Gesicht, in seinem rechten Ohr funkelte eine kleine, goldene Kreole. Er wirkte ein wenig wie ein Pirat, ein Schelm, dessen Schatten sich nun lachend dem des Engels zuwandte.
So nahe war ich einem Mitglied des Rates nie zuvor gewesen. In mir rumorte eine dunkle Neugier und ein Gefühl, das ich zu jenem Zeitpunkt weder zu benennen noch zu
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