Der letzte Schattenschnitzer
verstehen vermochte. Als ich später begriff, woher es rührte, da hätte ich mir gewünscht, mich niemals an die Füße Jonas Mandelbrodts geheftet zu haben. Hier aber, in den Hinterhöfen Londons, als ich mich diesem Schattenspieler gegenübersah, glaubte ich noch, dass dieses unbenennbare Gefühl in mir bloß Neugier war. Wie selten hat ein gewöhnlicher Schatten schließlich die Gelegenheit, mehr über das Denken und die Beweggründe des Rates zu erfahren. Und so hing ich mit meinem Herrn zusammen, verborgen im Inneren des Wächters, an den Lippen jenes närrischen Schattenspielers.
Skugga und der Neuankömmling begannen, einander zu umfließen, und Jonas konnte im Inneren des Dunkels ihre Stimmen vernehmen. Der Schattenspieler ergriff schließlich als erster das Wort: »Welch Ehre. Und welch Vergnügen noch dazu. Der Wächter selbst beehrt mich, um Teil des großen Schattenspiels zu werden.«
Der Engel scherte sich nicht weiter um seinen ironischen Unterton.
»Wenn du und der Rat, werter Skugga, andere Standpunkte vertreten würdet, hätten wir dieses Vergnügen auch unter anderen Umständen haben können.«
»Glaube mir, ich bin nicht immer einer Meinung mit dem Rat. Und seine Regeln sind mir oft genug zuwider. Aber gerade einer wie ich muss darauf achten, dass Regeln fortbestehen. Wie sonst sollte ich sie brechen können …?«
»Ich mag deine Art, Skugga. Du bist der Hofnarr des Rates … Vom Wahnsinn geküsst, aber wunderbar. Und hätten sie dich früher in ihre Reihen aufgenommen, wäre womöglich alles anders gekommen. Vielleicht hätte er sogar die Schattenschnitzer am Leben gelassen … Und Ripley hätte vielleicht niemals seinen Plan gefasst. Wer weiß.«
»Die Schatten der Vergangenheit kannst nicht einmal du verformen, Wächter. Die Dinge sind, wie sie sind. Und damit sie auch so bleiben, bin ich hier. Um zu verhindern, dass ein weiteres Siegel gebrochen wird.«
»Ich weiß, Skugga. Ich bin gekommen, dabei zuzusehen, wie du es erfolglos verteidigst. Und ich bin nicht allein gekommen.«
Der Angesprochene zögerte. Selbst in seinem Schatten war seine Verwunderung zu spüren.
»Es reist jemand in dir? Oh, lass mich raten … Es ist dieser Junge, dieser Jonas. Du zeigst ihm die Welt, den Rat und das, was dahinter steht. Damit er sich ein Bild davon machen kann, was geschieht.«
Der Engel schwieg. Und Skuggas Schatten begann zu lachen.
»Famos! Vortrefflich! Dann habe ich zumindest Publikum, nicht wahr? Ich bin schon sehr gespannt, wer es wohl sein wird, dem ich mich stellen muss. Ob es womöglich George Ripley selbst ist? Oder doch bloß der Italiener …« Er stutzte kurz, und sein Schatten schien etwas zu wittern. »Mir scheint, er kommt. Vielleicht solltet ihr eure Plätze einnehmen. Und was auch passiert, ich hoffe, dass es euch ein wenig gefallen wird. Ich habe nämlich etwas vorbereitet …«
Mit diesen Worten löste sein Schatten sich von dem des Engels, und Skugga schloss die Türen seines Wagens von innen.
Mit Jonas in sich glitt der Wächter weiter, über die Mauer auf den Friedhof, wo er sich über eine kleine Gruppe steinerner Kreuze legte und wartete.
Die Gegend war heruntergekommen. Die meisten der Häuser, die den Platz vor dem Friedhof umrahmten, standen leer. Der rote Backstein der Friedhofsumfriedung war an einigen Stellen beschädigt, einzelne Steine herausgebrochen und der aufgepflanzte Eisenzaun rostig und verbogen. Der Old Fulham Burial Ground war keiner der bedeutenden viktorianischen Friedhöfe der Stadt, wie Highgate oder Brompton, sondern ein kleiner, vergessener und heruntergekommener seiner Art. Er war entstanden, als England von Pest, Krieg und Cholera überzogen wurde und es auf den herkömmlichen Friedhöfen nicht mehr ausreichend Platz gegeben hatte. Somit war er älter als die viktorianischen. Die ältesten Grabsteine hier stammten noch aus dem 15. Jahrhundert; die Inschriften darauf waren lange schon nicht mehr zu entziffern. Die Steine selbst waren überwiegend schmucklos, von Moos und Schlinggewächsen überwuchert und lagen teilweise geborsten zwischen wilden Ginsterbüschen am Boden. Auf dem Old Fulham waren zwischen den sterblichen Überresten längst Verstorbener auch uralte Geheimnisse aus einer Zeit begraben, als die Häuser York und Lancaster im Krieg lagen und Heinrich VII. die Zeit der Tudors begründete.
Jonas glaubte, die Nähe des Siegels zu spüren – eine starre Macht, die von einem Punkt im Herzen des Friedhofs ausging. Doch der
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