Der letzte Schattenschnitzer
Manifestation nicht dazu nutzen, eines der falschen Siegel zu zerbrechen.
Der Kampf im Inneren des Wagens war kurz. Der Bus wankte, dann sprang die Seitentür auf, und für einen kurzen Moment sah Jonas einen dunklen Schatten, der sich hinter dem hockenden Skugga aufbaute und eine Klinge aus schimmernder Finsternis in Händen hielt. Es folgte eine schnelle präzise Bewegung, und die Schatten unter dem Transporter färbten sich rot. Leblos fiel der Schattenspieler auf die Seite. Sein Mund aber lächelte, als ob er seinen letzten Scherz für überaus gelungen hielt …
Schaudernd begriff Jonas, dass die Schwachstelle des Rates die sterblichen Körper seiner Mitglieder waren. Er konnte sehen, wie Skuggas Schatten sich sammelte und die falschen Grabsteine unter seinem leblosen Körper zusammenflossen.
Kaum dass sie eins geworden waren, strebten sie in Richtung des Schattentors, um dadurch in den Limbus einzugehen.
Das aber ließ der Eindringling nicht zu. Er stürzte sich auf den dunklen Rest des Schattenspielers und verschlang Skuggas Schatten mitsamt der Erinnerung an sein eindringliches Lachen. Der Hofnarr des Rates hatte seinen letzten Scherz gemacht.
Von einem Moment auf den anderen veränderte sich etwas auf dem Friedhof. Der Wächter glitt zurück und musste erkennen, wie leer der Friedhof plötzlich ohne die falschen Grabsteine wirkte. Sie hatten sich einfach in Luft aufgelöst, und zwischen den grauen, zugewachsenen Gräberzeilen war lediglich ein einziger schwarzer Stein übriggeblieben. Und vor ebendem nahm der Eindringling in diesem Augenblick wieder Gestalt an.
Im Inneren des Wächters schrie Jonas auf und drängte nach draußen.
»Warum unternehmen wir nichts? Er hat den Schattenspieler kaltblütig ermordet! Wenn diese Siegel das Gleichgewicht der Dinge schützen, müssen wir etwas tun, um ihn aufhalten und …«
Doch der Wächter ließ ihn nicht fort. Stattdessen wirkte er beruhigend auf ihn ein.
»Glaube mir, Jonas, du musst noch vieles lernen. Meine Rolle ist es, zu beobachten. Deine Rolle, zu verstehen. Wir zwei sind nicht des Gleichgewichtes wegen hier …«
Im nächsten Augenblick zersprang der falsche Stein im Griff des Fremden in zahllose finstere Splitter, die sich mit dem Dunkel des Friedhofs vermischten. Das zweite Siegel war gebrochen. Und nun ging ein weiterer Ruck durch die Schatten, erschütterte die Finsternis und ließ den Rest des Rates erschrocken zusammenfahren.
Schweigend beobachtete der Schatten des Engels, wie der Eindringling seine feste Gestalt wieder verlor und dann einen Augenblick später im Dunkel zerfloss und verschwand. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das dritte Siegel brechen würde.
Jonas Mandelbodt versuchte, zu verstehen. Der Wächter aber drängte zur Eile.
»Bist du bereit, Junge?«
»Wofür?«
»Wir haben ein Treffen vor uns. Und der Alte wartet nicht gerne.«
Mit diesen Worten breitete der Wächter seine Flügel aus und stieg in den finsteren Himmel über London auf, um gemeinsam mit Jonas in weiter Ferne, hoch über der Welt, den Ältesten des Rates der Schatten zu treffen.
Stolz erhob sich über Nepal und inmitten des Himalajas der Mount Everest. Ein Gigant aus Stein, Eis und Schnee, der im Verlauf der letzten Jahrhunderte mehr als zweihundert Opfer gefordert hatte. Ein Monument, dessen erhabene Pracht den Menschen an seine eigene Sterblichkeit gemahnte. Auch wenn immer mehr Bergsteiger ihn bezwangen, war dieser Berg doch immer noch die Grenze zwischen Himmel und Erde, der Punkt, an dem die Welt Gott am nächsten war, obwohl es der Sherpas wegen hier oben nicht einmal ein Gipfelkreuz gab. Denn dieser Ort war den Nepalesen heilig. Hier oben spürte man keinen Gott der Zeichen, sondern den Geist des Schöpfers selbst. Und aus diesem Grund kam der Wächter immer wieder hierher, um sich an längst vergangene Zeiten zu erinnern.
Hier wollte er, mit Jonas Mandelbrodt in seinem Inneren, den Ältesten des Rates treffen.
Als sich der Schatten des Engels auf den Berg hinabsenkte und den Schnee auf dem Gipfel verdunkelte, spürte er bereits die Gegenwart des Alten. Ein schwarzer Schemen inmitten von schimmerndem Weiß und zerklüfteten Felsen. Es war an der Zeit, dass sie miteinander sprachen. Die Welt stand kurz davor, sich ein letztes Mal zu verwandeln. Zwei der Siegel waren gebrochen, und es schien niemanden zu geben, der sich dem Verderben entgegenstellen konnte. Die Schatten gewannen an Macht.
Der Schatten des Wächters vereinte sich mit dem
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