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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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verzerrten. Und während die anderen gealtert waren, hatte sie unter dem Schutz des Dunkels gestanden und gewartet. Bis der Schatten des Engels Kontakt mit ihr aufnahm. Er empfand das selbsternannte Gleichgewicht des Rates als Verzerrung der Schöpfung und wollte den Schatten des Alchemisten befreien, um dessen Plan zu vollenden. Denn nur darin würde sich erweisen, ob die Schöpfung geschaffen war, um zu bestehen.
    Und in Erzsebet Stiny hatte er seine Verbündete gefunden. Im Rahmen alter Riten hatte sie einen Knaben gezeugt, der Ripleys Schatten dienen sollte. Cassus, den sie schließlich in England, unweit des Kerkers, gebar. Als der Wächter Ripley schließlich befreite, war alles bereit gewesen. Doch der Schatten hatte sich nicht um den ihm zugedachten, neuen Körper geschert und war hinaus in die Welt geflohen …
    Obwohl diese Ereignisse inzwischen gut vierzig Jahre zurücklagen, erinnerte Erzsebet Stiny sich doch noch immer genau. Die Enttäuschung hatte sie bitter werden lassen. Inzwischen aber lief alles wieder nach Plan. Der Rat war geschwächt, das große Ziel zum Greifen nahe, auch wenn noch immer drei Siegel gebrochen werden mussten. Sie stand im Bündnis mit dem Wächter und dem Eidolon, und wenn das Zeitalter der Schatten heraufdämmerte, würde sie zur Rechten des künstlichen Schattens sitzen, Ripley zu seiner Linken, und die Menschen wären die Knechte der Schatten …
    Versonnen betrachtete Mademoiselle Stiny das Bild der Nyx am Fuß des Felsens. Dann blickte sie auf, sah in der Ferne am Rande der Allee die Statue des mächtigen Herkules und erkannte einmal mehr, um wie viel prächtiger die Nacht war.
    Eine kleine Gruppe Touristen – dem Aussehen nach Finnen oder Schweden – stand unschlüssig vor dem Felsen. Sie berieten sich einige Zeit, schauten sich verwundert um und steckten schließlich ihre Fotoapparate weg. Dann gingen sie weiter. Erzsebet Stiny schmunzelte. Im Gegensatz zu den meisten Menschen hatte sie gelernt, auf die Schatten zu achten, und spürte, was in ihnen vor sich ging und sogar was sich in ihnen verbarg. Und darum entging es ihr auch nicht, dass sich Jonas Mandelbrodt, verborgen im Inneren seines Schattens, in ebendiesem Moment an sie heranzuschleichen versuchte.
    Sie lachte leise auf und machte keinen Hehl aus ihrem Wissen: »Du musst dich nicht verstecken, Jonas.« Mit diesen Worten lockte sie ihn hervor, sein Schatten glitt aus dem Unterholz auf sie zu.
    »Ich weiß, dass er dich geschickt hat. Dass er mir misstraut. Aber ich habe nichts zu verbergen, mein Junge.« Er umfuhr ihren Schatten, ihre Worte durchströmten ihn, und er zweifelte nicht an ihnen, als Mademoiselle Stiny fortfuhr: »Es ist gut, dass du hier bist. Am Ende werde ich dieses Siegel so wenig schützen können wie de Maester und Skugga die ihren.«
    Obwohl er ihr glauben wollte, spürte Jonas doch, dass die Stiny noch immer Geheimnisse vor ihm hatte.
    Während die Aufmerksamkeit des Jungen noch ganz auf die Worte Erzsebet Stinys gerichtet war, bestaunte sein Schatten ungläubig das Schattenstandbild im Herzen des Parks.
     
    Welch begnadete, wundervolle Kunst, den Schatten zu einer höheren Form zu verhelfen! So viele aus Dunkel geformte Skulpturen habe ich im Laufe meines Daseins gespürt, dass ich mich beinahe schon an diese Wunder der Schattenschnitzerei gewöhnt hatte. Doch wie einzigartig war dieses Kunstwerk, das sich hier zu Füßen jenes formlosen Stückes Fels präsentierte. Und mich, der ich doch nicht mehr als ein Schatten war, ergriff Ehrfurcht vor der Schöpfung. Der Schatten der Nacht war so formvollendet und einzigartig. Von einem dünnen schwarzen Schleier umgeben, lag vor mir im Grase die Nyx, jene Göttin, vor deren dunklem Wesen selbst Zeus sich fürchtete. Aus dem Chaos hervorgegangen, Mutter des Schlafes, des Todes und der fürchterlichen Erinnyen. So vieles gebar die Nacht, die uns Schatten seit Urzeiten näher ist als alle anderen Götter eurer Welt. Sie ist es, der wir uns verbunden fühlen und die wir an Mutters statt verehren.
    Und hier lag sie, geschaffen von den Händen eines Mannes, der in sich Magie und Handwerk vereint hatte. Oh ja, im Abbild unserer dunklen Mutter spürte ich das Wesen des Italieners und den Geist der Schattenschnitzer. Welch edle Geister waren sie gewesen, Künstler im Schatten, die das Dunkel ebenso ehrten wie das Licht! Und diese Skulptur war das Einzige, was von ihnen geblieben war. Ein Bild der Mutter Nacht, die aus ihrem Inneren nicht nur die Schatten,

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