Der letzte Tag der Unschuld
hartnäckig in seinem Mund, obwohl er schon unzählige Male ins Bad gegangen war und gegurgelt hatte.
Er wollte schlafen. Er musste schlafen. Er musste die Erinnerungen vergessen, die Bilderflut, die über ihn hereinbrach, sobald er die Augen schloss. Er sah Lippen, Zungen, Münder, Arme, Nacken, Brüste, Hüften, Hintern, Bäuche, Schamhügel. Seinen Penis, wie er hinein und hinaus glitt. Hinein und hinaus. Hinein und hinaus, in die anonymen Körperteile von Gestalten, die kein Gesicht, keinen Namen und keine Stimme hatten, die nur stöhnen konnten und manchmal protestierten, nein, das nicht, nicht von hinten, und er war gewaltsam in sie eingedrungen, hatte willenloses, unpersönliches Fleisch zerrissen, das nichts weiter war als Schamhügel und Bäuche und Hüften und Hintern und Lippen und Brüste und Öffnungen, in die er einzig und allein eindrang, um sich zu rächen. So wie die Polizisten in Helena eingedrungen waren, wie es die Folterknechte des Diktators Vargas mit Helena getan hatten, vor seinen Augen, mit ihren Penissen, ihren Knüppeln und Schlagstöcken, während er in der Papageienschaukel hing, so wie sie es in seiner Anwesenheit doppelt genossen hatten, sie wieder und wieder zu vergewaltigen, wie sie ihren Körper benutzt hatten, ihre Brüste, ihre Hände, ihr Gesicht, ihren Mund, während er gefesselt hatte zusehen müssen.
Er schlug die Augen auf.
Die anderen Alten um ihn herum schliefen friedlich, ihrem Röcheln, ihrem Asthma und ihrer Bronchitis zum Trotz. Eine Sekunde lang erhellte ein Blitz ihre Gesichter und ließ sie gespenstisch blass erscheinen wie in einer Leichenhalle vergessene Tote. Im plötzlichen Licht sah er seine Hände, ebenso bleich wie ihre Gesichter. Und sein Gesicht, das sich in einer nahen Fensterscheibe spiegelte. Es unterschied sich nicht von Geraldo Bastos’ Gesicht.
Dreizehn Schritte lang, neunzehn Schritte breit. Mal siebenundzwanzig Zentimeter, der Länge seines Fußes: Eduardo stellte fest, dass er Herr über zwei Meter siebzig mal gute drei, fast vier Meter war. Ein ganz normales Zimmer. Und doch groß genug, um Dona Madalenas ganze Hütte aufzunehmen.
Er löschte das Licht und ging zu Bett.
Der Tag war ein Reinfall gewesen, dachte er, als er ihn Revue passieren ließ. Den Besuch auf der Fazenda hätten sie sich sparen können. Sie hatten den weiten Weg völlig umsonst auf sich genommen, hatten nichts erfahren, was sie nicht schon vorher gewusst oder vermutet hatten, keinerlei Fortschritt gemacht. Je mehr Leute sie kennen lernten, die etwas mit Anitas Leben – Aparecidas Leben – zu tun hatten, desto weniger wussten sie über sie.
Er drehte sich zur Wand, um besser einschlafen zu können.
Der Donner klang ab, zog mit dem von Minute zu Minute schwächer werdenden Regen davon.
Wie es wohl bei Regen dort in dem Haus ist?, dachte er. Ob es hereinregnet? Kalt ist? Zieht? Sicher dringt der Wind durch den Spalt zwischen den Wänden und dem ungedämmten Dach herein. Wie wärmen sie sich in einer Nacht wie dieser? Reicht die schäbige Decke aus? Ist es die einzige, die sie haben? Bestimmt hatten sie vor dem Schlafengehen keine Nudelsuppe mit Fleisch, Kohl und Bohnen zu essen wie die, die ihm seine Mutter gekocht hatte. Und auch keine Wollstrümpfe wie die, die er trug. Und keinen Flanellschlafanzug.
Er seufzte. Als er sich die dicke Wolldecke um die Füße wickelte, hörte er ein Stöhnen, achtete aber nicht darauf, in Gedanken noch ganz bei der Hütte, die er am Nachmittag besucht hatte. Wie schrecklich es ist, arm zu sein, dachte er, wie schrecklich. Wieder hörte er ein Stöhnen. Er horchte auf, doch nun blieb es still.
Wie viele Menschen wie Dona Madalena und den Jungen mit den Ameisen mochte es geben? Ganz in seiner Nähe? In der Stadt? Im Land? In anderen Ländern? Gehen sie zum Arzt, wenn sie krank sind? Zum Zahnarzt? Nehmen sie Medizin, wenn sie welche brauchen? Haben sie Geld, um sie zu kaufen? Wer kümmert sich um den Jungen, wenn Dona Madalena stirbt? Oder kümmert er sich um sie? Wer ist dieser Junge? Warum ist er dort? Was hat er zu uns gesagt? Hat er uns gesagt, wie er heißt? Haben wir ihn gefragt, wie er heißt?
Er hörte Matratzenfedern quietschen. Das Geräusch kam aus dem Schlafzimmer der Eltern. Dann hörte er es wieder. Und wieder, in regelmäßigem Rhythmus. Er hörte die Stimme des Vaters, aber keine Wörter: ein Ächzen. Gleichmäßig. Getuschel. Dann ein unterdrücktes Keuchen, kurz, schnell, immer schneller. Und dazu das Stöhnen.
Er
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