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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Stadt hat einen Revolver?«, fragte der Alte zurück, ohne anzuhalten oder sich umzudrehen.
    »Eduardo hat das gesagt.«
    »Ja, ich war’s. Ich habe gesagt, dass sogar mein Vater …«
    »Aparecida wurde erstochen.«
    »Ja.«
    »Mit mehr als fünfzehn Stichen«, rief Paulo.
    »Siebzehn«, sagte Ubiratan. »Wenn sie erstochen wurde und jeder Mann hier eine Feuerwaffe besitzt, lässt das welche Schlussfolgerung zu?«
    »Dass sie von einer Frau ermordet wurde?« Paulos Stimme klang schrill.
    »Einer Frau?«, sagte Eduardo zweifelnd.
    »Dieser Mord wurde aus Hass begangen, aus einem fast biblischen Zorn heraus. Ein Mann, der sie dermaßen hasst, hätte ihr mit dem Revolver mitten ins Gesicht geschossen. Oder er hätte sie erwürgt, wenn es eine Beziehungstat gewesen wäre. Aber stattdessen … Die Messerstiche wurden ihr von einer Frau zugefügt, die neidisch auf sie war, eifersüchtig auf ihre Schönheit und Jugend. Und der beste Beweis dafür ist die Trophäe, wie ihr es nennt, die Trophäe, die die andere Frau von Aparecidas Körper genommen hat. Die Verstümmelung. Die abgeschnittene Brust. Nicht beide Brüste. Nur eine. Ein grausiger Beweis für den Sieg einer Frau über eine andere.«
    Sie waren bei den Rädern angekommen.
    Auch wenn sie nicht die ganze Tragweite dessen erfassten, was Ubiratan gesagt hatte, löste es in Eduardo und Paulo eine Flut bislang ungeahnter Vorstellungen aus. Eine Frau, dieses eher abstrakte Wesen, zusammengesetzt aus Bildern von ihren Müttern, der Jungfrau Maria, verführerisch lächelnden Filmschauspielerinnen und den undeutlichen Zeichnungen in Sexzeitschriften, konnte ebenso abscheuliche Verbrechen begehen wie ein Mann.

11
    Eine bedeutungslose Leiche
    Der Racheschwur, donnernd verkündet vom Bariton auf dem Plattenteller, hallte von den Wänden mit der weinroten Samttapete wider.
    Ah, Tosca, pagherai
    Ben cara la tua vita!
    Die blonde Matrone stand vom Sofa auf. Sie weinte. Dies war nicht länger der Salon des Bordells in der Stadt zwischen den Bergen, in die sie der damalige Abgeordnete Diógenes Marques Torres vor sechsundzwanzig Jahren gebracht hatte. Dies war Rom kurz nach der Niederlage Napoleons, und sie war – wieder einmal – die über den Tod des geliebten Mannes verzweifelte Floria Tosca. Sie war verhaftet worden, nachdem sie den Polizeichef niedergestochen hatte, der ihren Geliebten standrechtlich hatte erschießen lassen und außerdem versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Ein Gefolgsmann des Barons Scarpia verkündet, dass sie für den Mord mit ihrem Leben wird büßen müssen. Tosca stößt ihn von sich, Hanna stößt ihn von sich. Für einen kurzen Moment ist sie frei. Aber auf der höchsten Spitze des Castelo Sant’Angelo wird sie umzingelt. Alle Wege sind versperrt, Flucht ist unmöglich. Doch sie beschließt, dass die Schurken diesmal nicht obsiegen werden. Sie tritt an den Rand. Wenn sie schon ihr Leben verlieren soll, dann aus freiem Willen.
    Colla mia!
    Bevor sie in den Tod springt, schleudert sie dem Adligen, der so viel Böses getan hat, einen letzten Fluch entgegen: Scarpia, vor Gott wirst du gerichtet werden!
    O Scarpia, avanti a Dio!
    Langsam hob Hanna Wizoreck den Kopf, schloss die Augen und legte ihre zur Faust geballte Rechte an den wogenden Busen, während der Männerchor der Gefolgsleute und Soldaten Scarpias das tragische Ende der Puccini-Heldin beklagte.
    Dann vernahm sie hinter sich ein Geräusch. Sie drehte sich um. Durch die Tränen hindurch, die über ihre stark geschminkten Wangen kullerten, sah sie verschwommen in ihrem scharlachroten Salon zwei Jungen neben einer Gestalt stehen, die kleiner war als sie. Verblüfft über diese Eindringlinge in ihr Allerheiligstes, das niemand betreten durfte, wenn sie ihre Opern hörte, wischte sie sich rasch die Augen trocken. Eine raue Stimme sagte etwas auf Portugiesisch, was sich anhörte wie »Eine Mörderin wie Tosca«. Sofort erkannte sie den mageren weißhaarigen Mann.
    »Ach je! … Der Irre vom Friedhof.«
    Der Alte wurde von zwei Jungen in Schuluniform flankiert. Der Kleinere von beiden, ein Mulatte mit Segelohren und einem trapezförmigen Oberkörper, war kräftig wie ein Erwachsener im Miniaturformat. Die Augen des anderen, Hochgeschossenen, waren erfüllt von einer Melancholie, die sie an die schwindsüchtigen Dichter erinnerte, die sich in ihrer Jugend in sie verliebt hatten.
    »Was sind das für Kinder?«
    Ein Quietschen erinnerte sie daran, dass die Nadel am Ende der Platte angekommen

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