Der letzte Tag der Unschuld
schrie der, während er um die Hüfte gepackt und mühelos hochgehoben wurde.
»Setz den alten Spinner auf die Straße.«
Der Leibwächter trug den sich heftig wehrenden Ubiratan weg, als ob dieser nichts wöge.
»Sie wussten, wie Aparecida erniedrigt wurde! Sie wussten es und haben es zugelassen! Sie haben die Orgien zugelassen, die Fotos, Sie haben zugelassen, dass sie alle ihre Körperöffnungen benutzt haben!«
»Lass ihn los!«, schrie Paulo, aber niemand beachtete ihn.
»Sie haben sich auf die Seite dieser Männer geschlagen! Sie haben Aparecida verraten!«, brüllte Ubiratan, mit Armen und Beinen fuchtelnd. »Sie haben zugelassen, dass sie Aparecida benutzt haben wie einen Abtritt! Ausgerechnet Sie, die einmal genauso erniedrigt wurde! Die gedemütigt und penetriert wurde wie sie! Von jedem, der wollte! Von jedem, der dafür gezahlt hat!«
»Raus mit ihm, Humberto, und zwar sofort!«
»Warum haben Sie Aparecida umgebracht? Haben sie es Ihnen befohlen?«
Paulo versuchte, das Geschrei zu übertönen. Er schnappte sich eine Schallplatte.
»Lass los! Lass Ubiratan frei!«
»Wollten die Aparecida loswerden? Warum? Was hat sie getan? Was wusste sie? Wusste sie zu viel? Oder haben Sie sie aus Neid ermordet?«
Der Gorilla hatte Mühe, mit seiner zappelnden Bürde voranzukommen, die sich jetzt an die Rückenlehne des Kanapees klammerte. Das Möbelstück wurde mitgeschleift, bis es an einem der Teppiche hängen blieb.
»Auch wenn sie den Mordbefehl erteilt haben, haben Sie sie aus Neid erstochen! Aus Neid auf ihre Jugend! Auf ihre Schönheit! Sie haben Aparecida aus Neid ermordet, und die abgeschnittene Brust ist der beste Beweis dafür! Sie haben sie aus Hass verstümmelt, aus Neid, aus Eifersucht!«
»Lass Ubiratan los, oder ich zerbreche die Schallplatte!«
»Na los, Humberto! Schmeiß ihn endlich raus!«
»Aparecida war jung, das Leben lag noch vor ihr! Sie sind alt! Sie sind für den Rest Ihres Lebens in diesem Bordell eingeschlossen, und diese Stadt ist Ihr Grab! Wollte Aparecida fortgehen? Hätte sie woanders vielleicht Geheimnisse ausplaudern können, die jemandes Karriere zerstört hätten? War das ihr Todesurteil?«
»Lass Ubiratan los! Lass ihn los, oder ich zerbreche diese Schallplatte!«
Endlich war es Paulo gelungen, sich im allgemeinen Tohuwabohu Gehör zu verschaffen: Hanna fuhr herum und starrte ihn entsetzt an. Sie ging auf ihn los und versuchte, ihm die Schallplatte zu entreißen, die er durch die Luft schwenkte. Eduardo kam seinem Freund zu Hilfe.
»Hören Sie auf!«, befahl Paulo. »Sofort!«
Hanna erstarrte.
Eduardo schnappte sich das Tosca -Album.
»Wenn Sie näher kommen, zerbreche ich diese Schallplatten hier.«
Die Puffmutter wandte sich zu ihrem Gorilla um, ratlos, welchen Befehl sie ihm erteilen sollte. Er schüttelte Ubiratan, bis dieser das Möbelstück loslassen musste, an dem er sich festkrallte.
»Keiner rührt sich«, befahl Eduardo.
Die Puffmutter tat einen Schritt auf die Jungen zu und streckte die Arme aus.
»Wir zerbrechen sie alle«, beschloss Paulo und hob den Arm, um die Schallplatte auf den Boden zu schleudern.
»Nein!«, stöhnte Hanna fassungslos und blieb stehen. »Macht das nicht mit meinen Platten! Tut das nicht!«
»Dann sagen Sie ihm, dass er ihn loslassen soll.«
Hanna Wizoreck zögerte. Sie erkannte, dass die beiden Jungen keine Ahnung hatten, welche Kostbarkeit sie da in den Händen hielten. Andernfalls hätten dieser schwarze Banause und der dürre blasse Knabe niemals die Tosca , und noch dazu diese Version der Tosca missbraucht, um ihr zu drohen. Es war die Tosca -Aufführung unter Leitung von Victor Sabata, gesungen vom Opernchor der Mailänder Scala. Ein Meisterwerk, das sie ein kleines Vermögen gekostet hatte; vergeblich hatte sie bei mehreren Läden in Rio und São Paulo angefragt, Bestellungen, Bitten und Briefe verschickt und Handelsvertreter angefleht; es hatte sie zermürbt, immer wieder Boten loszuschicken, Anschreiben auf Kohlepapier zu tippen, sich mit der endlosen Bürokratie der Zolleinfuhr herumzuschlagen. Dann hatte sie lange – endlos lange, wie ihr schien – auf das Päckchen aus dem Ausland warten müssen, bis sie nach neunzehn Monaten vergeblicher Mühe endlich in diesem gottvergessenen Kaff die schwarzen Platten mit dem Werk in den Händen gehalten hatte, das sie in ihrem nicht enden wollenden Exil tröstete. Und nun konnten es diese Barbaren mir nichts, dir nichts in Scherben schlagen. Die großartige Aufnahme
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