Der letzte Tag: Roman (German Edition)
auf Sie gewartet. Damit ich Ihnen den Rest zeigen kann. So wie ich es versprochen habe. Und auch, um Ihnen eine Chance zu geben.«
»Was denn für eine gottverdammte Chance? Wovon reden Sie überhaupt?«
»Es gibt eine Möglichkeit für Sie, sich zu retten.«
In einem kurzen Aufblitzen seines Selbsterhaltungstriebs, das ihm sofort verwerflich erschien, ließ er Max los. Falls es noch etwas gab, das getan werden konnte, dann würde es dieser intrigante alte Irre wissen.
Max strich die Aufschläge seiner verschmutzten Hausjacke glatt. »Das hier ist keine Geistergeschichte für ein Massenpublikum, mein Freund. Kein verhextes Haus, das man filmt, um sich dann im Privatfernsehen darüber zu ergehen. Keine paranormale Fantasie, die man aus Spaß mit Freunden zusammen filmt. Für die Festivals und die Fans. Für die Freaks.« Max lächelte süffisant, und Kyle fragte sich, warum er diesem kleinen Mistkerl nicht einfach den Schädel einschlug und ihn zerquetschte wie eine überreife Melone. »Es geht um mehr. Viel mehr. Dies hier ist real. Das ist es immer gewesen. Deshalb konnten Sie es auch nicht einfach aufgeben. Sie sind mit etwas Echtem konfrontiert worden. Sie haben es gerochen! Das ist die Wahrheit. Sie können sich natürlich dafür bemitleiden, dass Sie hineingezogen wurden. Aber Sie sollten allmählich
an das glauben, was Sie gesehen haben, nur dann können wir zielgerichtet und ohne Skrupel handeln.«
»Sie kleiner Scheißkerl …«
Max ließ seinen Stock durch die Luft sausen und deutete dann mit der Spitze auf den Generator. »Kommen Sie, solange noch Strom da ist.« Er schaute auf die Uhr. »Wenn uns der Saft ausgeht, müssen wir längst verschwunden sein.«
Kyle saß in dem großen Ledersessel und fühlte sich stumpf und leer. Kraftlos. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er saß nur da, wartete, starrte auf den leeren Bildschirm auf Max’ Schreibtisch. In der einen Hand hielt er das Glas mit dem Brandy, den er schon einmal zusammen mit Max getrunken hatte, damals, in besseren Zeiten, könnte man beinahe sagen. Er stellte fest, dass es fast unmöglich war, dass er immer noch wach war. Wie viele Stunden hatte er seit seiner letzten Nachtruhe in Amerika geschlafen? Fünf kurze Nickerchen auf dem Rücksitz von Taxis und auf Max’ Sofa. Die ganze Reihe von Schocks, die er erlitten hatte, hatten ihn nervös gemacht. Gleichzeitig war sein Kopf immer schwerer geworden. Es kam ihm vor, als quälten seine Gedanken sich durch dickflüssige Melasse, er war apathisch und lethargisch, sobald er sich hinsetzte. Und so voller Angst, dass Schlaf überhaupt nicht mehr infrage kam.
Wenn er sich hinlegte, wie lange würde es dauern, bis sie ihn holten? Er stellte sich vor, wie sein Kater an einem schwarzen Kieferknochen schnüffelte, der auf dem Boden in seiner Küche lag. Dann verwarf er den Gedanken, weil er beinahe aufgeschrien hätte.
Max beugte sich über den Laptop. »Sie müssen jetzt gut aufpassen, Kyle. Ich gehe genau in dem Moment, wo das hier beendet ist.«
»Sie gehen nirgendwo hin. So lange, bis ich jedes Körnchen Wahrheit aus Ihrem klapprigen Körper geschüttelt habe.«
»Sie werden zufrieden sein. Das versichere ich Ihnen.« Max sah auf den Bildschirm, der nun aufleuchtete und grinste schief, bis sein verunstaltetes Gesicht zu schmerzen schien. »Kürzlich habe ich diesen kleinen Insert für unseren Film vorbereitet. Um deutlich zu machen, in welche Richtung Ihre Entdeckungen gehen.«
Kyle spuckte den Brandy zurück ins Glas. »Sie wollen einen Insert reinschneiden!« Aber was für einen Unterschied machte das jetzt noch? Er sollte eigentlich zu müde und ausgelaugt sein, um sich wegen einer solchen Einmischung aufzuregen. Aber so war es eben nicht. Wurde in der Geschichte des Films ein Regisseur jemals so schlecht von seinem Produzenten behandelt wie er von Maximillian Solomon? Wahrscheinlich.
Der Bildschirm füllte sich mit Fotos von Gesichtern, die vor Jahrzehnten aufgenommen wurden. Sie waren körnig und leicht verwaschen, wie man es von gescannten Bildern kennt. Manche waren schwarz-weiß. Max räusperte sich. »Zweiunddreißig. Alle tot oder vermisst. Alles Mitglieder des harten Kerns der Letzten Zusammenkunft in London oder Frankreich. Ich habe sie alle gekannt. Sehen Sie hier.« Max deutete auf ein unscharfes Bild auf dem Bildschirm: ein Mann mit einem schmalen Gesicht und langen dunklen Haaren. »Bruder Gabriel.« Kyle beugte sich vor, schaute genauer hin und bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher