Der letzte Tag: Roman (German Edition)
stank die ganze Wohnung nach kaltem Zigarettenrauch, und der Kater hatte es sich auf seinem Kopfkissen bequem gemacht und schlief. Kyle schaltete den Fernseher ein und wieder aus. Er schaute nach seinen E-Mails. Keine Nachricht von Dan. Er sortierte seine Wäsche
und packte den Rucksack für die Reise nach Amerika. Morgen würde er sein Skript überarbeiten und den Drehplan für den folgenden Tag erstellen, den er während des zehnstündigen Flugs noch mal durchgehen konnte. Dann früh beginnen, die Drehorte besichtigen und sich genau die Gestaltung überlegen. Die letzten vier Interviews würden sie dann in Rekordzeit absolvieren.
Kyle setzte sich aufs Sofa und ging noch mal den Bildteil des Buchs von Irvine Levine durch. Das Buch faszinierte ihn so sehr, dass er es immer wieder in die Hand nahm. Er schaute Katherines schlaffes, aber nicht unattraktives Gesicht an, dann die düstere Rasputin-artige Erscheinung von Bruder Belial auf der gegenüberliegenden Seite. Diesen Mann mit dem spärlichen Bartwuchs, der an der Erschießung von vier Sektenmitgliedern beteiligt gewesen war, als diese versuchten, der »Nacht des Aufstiegs« zu entkommen. Der anschließend Schwester Katherine umgebracht und die Kehlen von vier seiner Kameraden aus der Gruppe der Sieben durchgeschnitten hatte. Später, etwa vierzig Minuten, nachdem der Besitzer der Nachbarfarm die Polizei wegen eines Feuers, eines Ufos, bellender Hunde und Schüssen auf dem Sektengelände alarmiert hatte, fand die Polizei Belial in der Kupfermine zusammen mit fünf zerlumpten Kindern.
Hunde. Immer wieder Hunde.
Kyle stapfte hinüber zu seinem Bett, versuchte, den Kater wegzuscheuchen, aber der sah ihn finster an und fuhr die Krallen aus. »Scheiß drauf.« Er legte sich um das Tier herum und schlief sofort ein, die eine Hand unter den Kopf gelegt.
Und wurde halb wach mitten in der Dunkelheit, nachdem er an einem Ort gewesen war, der ihm jetzt nur noch bruchstückhaft in Erinnerung war. Ein trüber, rußiger, verräucherter Ort, wo der Regen über nasse Steine rann, wo angespannte, aber undeutliche Gesichter sich sehnsuchtsvoll nach oben reckten, wo unsichtbare Gase waberten. Lumpige, hagere und rötlich verschmierte
Körper, die mehr Knochen als Fleisch waren. Dunkle strohige Klumpen von Unrat lagen verstreut im Matsch unter ihren schmalen Füßen, die über diesem ganzen Dreck in der Luft hingen. Furchiger Lehm mit öligen Wasserpfützen, denen ein ekelhafter Geruch entströmte.
Flatternde Flügel mit staubigen Federn jenseits des Rauchs.
Weit entferntes Scheppern von stumpfem Metall.
Ein Ort in winterlichen Farben in blassem Licht und dicker Luft.
Und dann er, hier … über dem eigenen Bett, in seinem Zimmer, im Dunkeln. Das Licht, das die Vorhänge säumte, war millimeterdünn und silbrig. Substanzlos schwebte er über der Matratze. Über und unter seinen Beinknochen wölbten sich verformte Gelenke. Breite Hüften, hohler Magen, hervorstechende Rippenknochen: Er spürte jeden Zentimeter seiner malträtierten Gebeine. Seine zugeschnürte Kehle verlangte nach Wasser. Sein eingetrocknetes, lippenloses Gesicht lag wie eine Totenmaske inmitten eines Kranzes aus farblosem Haar, strohige Büschel rahmten seinen fleckigen Schädel ein, dessen hervorquellende Adern sich schwarz verfärbt hatten.
Zu lange, viel zu lange Füße baumelten in der kalten Luft, und diese länglichen, klauenartigen Finger an der knorpeligen Hand waren zu kraftlos, um eine Bewegung zu vollführen, und hingen ausgebreitet in der Luft wie bei einem Gekreuzigten. Er war dem eigenen Körper entstiegen und befand sich nun in diesem Ding.
Er wand sich, strampelte und kämpfte darum aufzuwachen, als er erst halb begriffen hatte, dass er in einem unbekannten, gebrechlichen Körper über dem Bett gefangen war. Ein Körper, der weiter langsam zur Decke hinaufschwebte, zu einer Decke, die er nicht sehen konnte. Und in der vagen Erinnerung an die Person, die er mal gewesen war, wand er sich verzweifelt, um einen Weg zurückzufinden zu dem Fleisch und Blut, das einst seine nackten Knochen bedeckte.
Unter ihm, in der Dunkelheit, hörte er ein Kratzen und Pochen, dann ein heftiges Schlagen – peng, peng, peng – das Geräusch kam aus einem anderen Raum, aber aus nächster Nähe.
Dann fiel er. Und erwachte mit dem Gefühl, in der Luft zu schweben. Lag, teilweise vom Schock gelähmt, teilweise vor Angst zuckend in seinem zerwühlten Bett, laut schnaufend, drehte sich auf die Seite, krümmte
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