Der letzte Werwolf
getankt, fiel Eisregen. Ich hatte bemerkt, wie der von Akne geplagte Kassierer uns einen Blick aus dem Augenwinkel zuwarf. Das war neu für mich. In menschlicher Form gehe ich eigentlich immer als ganz normaler Mensch durch. Waren wir zu zweit spürbar anders?
»Das ist keine Glaubensfrage«, erwiderte Talulla. »Das hängt einem einfach an, ist altes Mobiliar, das man nicht wegwerfen kann. Die Gebildete in mir weiß, dass es die Hölle nicht gibt, eine Fiktion, die ich einfach geerbt habe. Die andere in mir weiß, dass ich dort enden werde. Heutzutage muss es wohl Dutzende Ichs geben, die sich dabei abwechseln, in die andere Richtung zu schauen.«
»Die postmoderne Lösung«, sagte ich. »Kontrollierte multiple Persönlichkeitsstörung. Man nimmt sich irgendeine Fiktion und teilt ihr einen Aspekt des eigenen Ich zu.«
»Aber die Geschichte in Quinns Buch hältst du nicht für Fiktion, oder doch?« Ich hatte ihr alles darüber erzählt, was ich wusste, auch wie nahe ich den Männern, die zu Wölfen wurden, bei Jacqueline Delon gekommen war.
»Lächerlich, nicht?«, erwiderte ich. »Da kann alles andere ruhig seinen Platz in der sinnlosen Evolution haben, nur
meine
Art ist anders. Das ist nur ein riesiger Kopfschmerz aus –« der Zeit als Mensch, hätte ich beinahe gesagt, fand aber, dass das den Punkt mit der Unfruchtbarkeit wieder aufgebracht hätte. »Ist doch immer derselbe Mist«, sagte ich stattdessen. »Der Wunsch, zu erfahren, woher man kommt, in der Hoffnung, Antwort auf die Frage zu finden, warum wir hier sind und wohin wir gehen. Der Wunsch, das Leben würde mehr bedeuten als nur willkürliches subatomares Gebrabbel.«
»Und jetzt haben es die Vampire«, meinte Talulla. »Falls du wirklich glaubst, dass die es haben.«
»Glaube ich, ja.«
»Ich weiß, es ist verrückt, aber ich komme über diese ganze Vampirgeschichte immer noch nicht hinweg. Dass es sie wirklich gibt.«
»Ja, das liegt an diesem lahmen Punkt, dass sie am Tag schlafen müssen. Und dass sie keinen Sex haben.«
»Die haben keinen Sex?«
»Nein. Das Verlangen vergeht. Die werden einem zwar erzählen, dass Sex überhaupt kein Vergleich ist mit dem Gefühl, sein Opfer auszusaugen, aber in meinen Ohren klingt das nur verzweifelt. Das ist einer der Gründe, warum sie uns hassen.«
Uns
. Ich spürte, wie das Wort für sie einen Stamm heraufbeschwor, eine Familie, eine Art – dann löste sich der Effekt wieder auf. Eine ganze Spezies, die zu silbrigem Staub geworden war.
»Und woher wissen wir, dass es wirklich keine anderen mehr gibt?«, fragte sie gleich im Anschluss an dieses Bild. Sie rollte ein wenig mit dem Kopf, um die Spannung im Nacken zu lösen, erste Anzeichen von Wolf. »Alfonse Mackar hat mich zur Werwölfin gemacht – okay. Du hast gesagt, ich müsse irgendeine Anomalie an mir haben, dass ich mich habe anstecken können. Was, wenn er die Anomalie hatte? Vielleicht war
er
immun gegen diesen Virus. Vielleicht hat er auch noch andere verwandelt? Es könnte noch Dutzende geben, Hunderte –«
»Keine Hunderte. Die WOKOP würde das wissen. Harley hätte davon gewusst.«
»Ein paar zumindest. Ist doch möglich, oder nicht?«
Das war mir auch schon in dem Sinn gekommen. Aus keinem anderen Grund als aus meinem zweihundert Jahre alten Bauchgefühl heraus glaubte ich das nicht. »Möglich ist es schon«, antwortete ich.
»Aber du glaubst es nicht.«
»Nein. Weiß auch nicht, warum.«
Wieder Schweigen, wieder arbeitete ihr Verstand. Dann ein leises Lächeln. »Weil es weniger romantisch wäre«, erklärte sie.
Wir fuhren bis spät in die Nacht, so hatte zumindest derjenige hinter dem Steuer ein wenig Ablenkung vom Hunger. Unsere Gerüche bildeten eine muffige Mischung im Wagen, durchzogen uns, ließen das Verlangen nicht zur Ruhe kommen. Sex dämpfte das Trommeln für ein, zwei Stunden. Dann wurde der Schlag wieder lauter, wurde stärker, die Ruhephasen immer kürzer. Ich spürte, wie Talulla manchmal auf ihr Werwolfleben zurückblickte, als wir uns noch nicht begegnet waren, und sie erlebte eine Art rückwirkenden Schwindel, eine Übelkeit, dass sie allein so lang überleben konnte. Es war, als sei die Sonne aufgegangen und zeige ihr zum ersten Mal, wie nah sie im Dunkeln an einem dreihundert Meter tiefen Abgrund entlanggelaufen war. Trotz dieser Gedanken spürte ich auch, wie sie Tag für Tag den ästhetischen, den charakterlichen Wandel durchmachte: Solange du noch immer an Selbstmord denkst, kann der Fluch sich als
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