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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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ist klar: Werde unter allen Umständen zu einer Abscheulichkeit – aber nur wenn dich Kummer oder Zorn in den Wahnsinn treiben. Talulla wusste, von Rechts wegen hätte sie Waise sein müssen oder Vergewaltigungsopfer, pädophiles Opfer oder todkrank, suizidal veranlagt oder wütend auf Gott über den Tod der Mutter oder zumindest in irgendeiner Weise gestört, wenn sie schon hingerichtet werden sollte, nur weil sie sich nicht selbst umgebracht hatte, wenn erstmal bekannt wurde, dass sie Menschen töten und fressen musste, um am Leben zu bleiben. Der blanke Wunsch, am Leben zu bleiben, in welcher Form auch immer – als Werwolf, Vampir, Vater der Lügen – kann ja eigentlich kein moralisch hinreichender Grund sein. Und doch war sie hier, war am Leben. Du liebst das Leben, weil das Leben alles ist. Das, Damen und Herren Geschworenen, ist des Pudels Kern in dem Fall gegen Talulla.
    Als wir am Abend nebeneinander auf dem Bett eines Zimmers im Motel 6 lagen, wusste ich, was kam.
    »Ich habe Tiere getötet«, sagte sie leise.
    Neun Monate, sechs menschliche Opfer. Simple Arithmetik.
    »Ja.«
    »Hast du das auch versucht?«
    »Ja.«
    Es regnete. Das Motel war fast leer. Im Zimmer roch es nach feuchtem Gips und Möbelpolitur. Auf dem nassen Highway eine halbe Meile entfernt hupte ein Laster. Talulla dachte an ihre Eltern. Ihre Mutter war tot, ihr Vater lebte allein in dem großen, von Ahorn beschatteten Haus der Gilaleys in Park Slope. Einen Großteil ihrer Energie hatte Talulla darauf verwendet, sich vom Fluch nicht die Wärme zwischen sich und Nikolai nehmen zu lassen, der ihr mit der Hand sanft über die Wange fuhr, als sei sie noch immer ein kleines Mädchen.
    »Das hat natürlich nichts gebracht«, fuhr sie fort. »ich wusste sofort, dass es nicht funktioniert. Das merkt man gleich.«
    Tatsächlich. Mach dir keine Illusionen, sagt der Fluch:
Menschliches
Fleisch und Blut. Das hier ist nicht zum Spaß. Ein Tier hilft da nicht, wenn es nicht anders geht. Verweigere dem Hunger, was er verlangt, dann wirst du schon sehen, was du davon hast. Der Hunger ist darüber gar nicht erfreut. Der Hunger wird es für erforderlich halten, dir eine Lektion zu erteilen, eine, die du nie vergessen wirst.
    »Ich dachte, ich müsste sterben«, erklärte Talulla. »Ich musste mich hinterher derart übergeben, als ob ich meine Gedärme auskotzen wollte. Ich war erleichtert. Ich dachte schon, ich hätte das Problem gelöst, hätte mich vergiftet, ein tödlicher Unfall. Aber es ging vorüber, natürlich.«
    Meine Hand ruhte knapp über ihrem Venushügel. Die Frage war nur, ob ich das, was jetzt kam, erotisch nutzen sollte. Ich spürte, dass ihr diese Möglichkeit bewusst war. Sie war unentschlossen. Es ging ihr zu viel im Kopf herum: der Tod der Mutter, die Einsamkeit des Vaters,
wir können keine Kinder haben
, die unschuldigen Opfer, die Aussicht auf vierhundert Lebensjahre.
    »Beim nächsten Mal wurde es noch schlimmer«, fuhr sie fort. »Nach dem dritten Monat wusste ich, dass ich keine weitere Verwandlung schaffen würde, ohne richtig zu fressen.« Es kostete sie einige Mühe, das Wort ›fressen‹ auszusprechen. Ihre Stimme verhärtete bei dem Wort. Gut möglich, dass dies das erste Mal war, dass sie es hatte in Worte fassen müssen. Kurtz’ unaussprechliche Rituale. »Ich war wie wahnsinnig«, sagte sie. »Zwei Stunden vor Mondaufgang fuhr ich einfach ziellos in Vermont herum. Ich weiß nicht, was ich dachte. Vielleicht wollte ich mich umbringen lassen, vielleicht in ein Hotel gehen und die ganze Verwandlung einfach in der Lobby vor sich gehen lassen.« Sie hielt inne und schloss für einen Augenblick die Augen. Dann schlug sie sie wieder auf. »Na ja, nicht
ziellos
. Man weiß, was man tut, auch wenn man vorgibt, es sei nicht so. Ich kannte da eine Stelle von einem Urlaub vor vielen Jahren. Ein großer Wald zwischen zwei Orten. Die Häuser lagen weit verstreut. Ich suchte mir willkürlich eins aus. Ich war nicht sonderlich vorsichtig, ging einfach hinein. Die Türen waren nicht mal abgeschlossen. Es war ein Neunzehnjähriger. Er hieß Ray Hauser. Es war die letzte Woche der Sommerferien. Seine Eltern waren in der Stadt und schauten sich eine Vorführung von
Titus Andronicus
an. Das habe ich hinterher aus der Zeitung erfahren.«
    Ich sagte nichts. Therapeuten, Priester und Reporter wissen genau, wann sie nichts sagen sollten. Wenn man stirbt und steht vor dem Jüngsten Gericht, wird Gott dasitzen, unendlich lang nichts sagen, und du

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