Der letzte Werwolf
Mammutbaum und feuchter Erde pochten mir die Augenzähne und die Fingernägel.
Gegen drei Uhr nachmittags hatte sich der Nebel gelichtet, und die Sonne kam hervor. Ich arbeitete frei und flüssig, und als ich noch eine Stunde bis Sonnenuntergang hatte, hatte ich ein mögliches Opfer und zwei Ersatzorte ausgesucht. Das Ganze erforderte einen sechzehn Meilen langen Rundweg und genaues Timing, aber wir konnten das Ganze erledigen, ohne ein einziges Mal die Deckung verlassen zu müssen – besser wird es nicht.
Als ich gerade wieder in den Toyota stieg, rief Talulla an.
»Tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass ich nun in der Hummelphase bin«, sagte sie.
»Gut.«
»Reg dich wieder ab. Im Grunde handelt es sich nur um ADHS mit Fieber und Halluzinationen.«
Ein weiterer Grund für die Zivilisation ist die Tatsache, dass man mit Liebe vollgestopfte Banalitäten am Telefon austauschen kann.
»Ich habe alles vorbereitet«, erklärte ich. »In einer Stunde bin ich bei dir.«
Die Sonne versank im Pazifik, die Berge strahlten rosa und golden auf. Der Wagen war warm im Abendlicht und sprach mit seinem Benzin- und Vinylgeruch von Amerika. Ich fuhr langsam, konzentrierte mich.
Wolf
störte immer wieder, spukte mir mit Krallen und Schnauze in Händen und Gesicht. Meine Kopfhaut wurde locker und spannte sich, wurde abwechselnd heiß und kalt. Bald, Bruder, sehr bald. Aber ich fuhr vorsichtig zu meiner Geliebten.
43 .
Am folgenden Abend stellten wir den Toyota, nun mit kalifornischen Nummernschildern, an einer rund um die Uhr geöffneten Tankstelle mit Schnellrestaurant an der Route 1 etwa eine Meile nördlich des Andrew Molera State Park ab. Talulla trug eine blonde Perücke, ich einen falschen Schnurrbart und eine Baseballmütze der Yankees. Beide hatten wir Sonnenbrillen auf. Die Verkleidung wirkte übertrieben, aber die Tankstelle hatte Überwachungskameras. Es war kühl und feucht. Noch drei Stunden bis Mondaufgang. Lus Laune hatte sich erneut geändert. Die Unruhe der letzten Nacht hatte sich gelegt. Jetzt war sie ruhig, hatte einen klaren Blick. Sie hatte das vorletzte Stadium vor der Verwandlung erreicht. Das letzte würde zehn Minuten vor dem Wandel einsetzen. Nicht schön, so hatte sie es beschrieben.
Es dauerte eine Stunde bis zum Ort der Verwandlung, den ich ausgesucht hatte. Mammutbäume, dazwischen Eichen, mindestens eine halbe Meile vom nächsten Wanderweg entfernt. Von dort sieben Meilen bis zum Ziel. Töten. Sieben Meilen zurück. Zwei Meilen zum Auto. Das Timing war wichtig. Das Timing ist immer wichtig. Mondaufgang 20 Uhr 06 , Monduntergang morgen früh 7 Uhr 14 . Elf Stunden und sechsundvierzig Minuten Fluch. Hätte ich allein gejagt, dann hätte ich es bis vier Uhr früh hinausgezögert. Zwei Stunden für den Mord, das Fressen, und eine Stunde vierzehn für den Weg zurück zum Ausgangslager. Wenn du erst mal mit dem Hunger klarkommst, mit dem Appetit, der Verlockung, sollte die Zeitspanne zwischen dem Verbrechen des Werwolfs und der Flucht des Menschen möglichst kurz sein. Aus einem einfachen Grund: Sollten die Überreste gefunden werden und es wird Alarm geschlagen, möchte man nicht zwei Meter fünfundsiebzig sein, von Kopf bis Fuß Fell tragen, eine verschmierte Schnauze und blutige Krallen haben, wenn die Sirenen losheulen. Aber ich war ja nicht allein.
»Es ist so weit«, verkündete Talulla.
»Hier rein. Schnell.«
Ich hob einen Ast an, und sie schlüpfte hinunter. Ihr Gesicht war angespannt und verschwitzt. »Zieh dich aus«, sagte ich. »Schaffst du das?«
Nach meiner Nase zu urteilen, war niemand in der Nähe, außerdem konnte man uns nicht sehen. Das Zwielicht auf den Straßen und Wegen gerann unter den Bäumen zu Dunkelheit.
»Oh«, machte Talulla, die sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte, und hielt sich den Bauch. Sie schluckte mehrmals, würgte trocken. Ich half ihr aus BH und Slip und stopfte sie mit unserer anderen Kleidung in den Rucksack. Kontrolle: Feuchttücher, Sprühflasche, Flüssigseife, Müllbeutel. Ich stieg fünf, sechs Meter die Eiche hinauf (so wie ich es gestern geprobt hatte) und band den Rucksack dort fest. Wieder am Boden, fand ich Lula auf Knien vor, zusammengekrümmt, die Arme um sich geschlungen.
»Fass mich nicht an«, sagte sie.
»Okay.«
»Ganz nah.«
»Ich weiß. Bei mir auch.«
Das waren die letzten Worte, die wir in der Nacht wechselten.
Es ging schnell bei ihr, schneller als bei mir. Ich – als Mann, als Älterer (als
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