Der letzte Werwolf
mich ablenken könnte. Wie sich herausstellt, funktioniert die Ablenkung auch ganz gut ohne Hilfsmittel. Es ist die dritte Nacht, in der ich es geschafft habe, nichts von dem zu schreiben, weswegen ich hergekommen bin. Stunden sind dabei vergangen, ins Feuer zu starren, aufs Meer hinauszublicken oder einfach nur in einem whiskybefeuerten Schlummer dazuliegen und mich an der stummen Gesellschaft der Füchse zu wärmen.
Die Überwachung hat wie geplant funktioniert. Ich legte zur Tarnung ein paar Schlenker auf dem Weg zum Bahnhof Paddington ein, sorgte aber dafür, dass mindestens drei WOKOP -Agenten mit mir in den Zug nach Penzance stiegen. Wenn sie keine Wagen gehabt hätten, die auf sie warteten, dann hätten sie mich schon in St. Ives verloren, doch gegen Mitternacht verriet mir die Dunkelheit, dass sie mich wiedergefunden hatten. Für sie war das kein gemütlicher Job. Du beobachtest den letzten lebenden Werwolf, doch die meiste Zeit denkst du an Thermosflasche, Frostbeulen, an den eiskalten Hintern, an den Himmel, daran, den Schnee hinter dir zu lassen und dich in den Dienstwagen zu hocken. Ich überlegte, ob ich sie nicht hineinbitten sollte. Ich entschied mich dagegen: nur noch mehr Ablenkung. An Tag zwei schlug der Zeiger noch weiter aus; ich glaube, Ellis ist eingetroffen. Grainer, sagt mir mein Innerstes, hält Abstand, will sich die Spannung nicht versauen. Wir sind wie Connie und Mellors am Ende von
Lady Chatterley
: Getrennt, keusch reinigen wir uns zu Ehren des kommenden ehelichen Vollzugs.
Also gut. Es ist Nacht geworden. Die Füchse sind draußen auf Jagd. Feuer im Kamin, Glenlivet im Glas.
Noch eine Zigarette, um meine Gedanken zu sammeln.
Als ob die noch nicht gesammelt wären. Als ob sie nicht schon seit einhundertsiebenundsechzig Jahren gesammelt sind wie eine rotäugige Meute.
10 .
Neumond, erstes Viertel, zunehmender Halbmond, zweites Viertel, Vollmond, drittes Viertel, abnehmender Halbmond, letztes Viertel, Neumond. Im Sommer 1842 kannte ich die einzelnen Mondphasen noch nicht mit Namen. Ich wusste nicht, dass ein ganzer Umlauf
Lunation
genannt wird oder dass der Vollmond nur eine Nacht lang voll ist (auch wenn es zwei oder drei Nächte lang so aussieht) oder dass der Ausdruck ›once in a blue moon‹ sich auf das Erscheinen von zwei Vollmonden im selben Monat bezieht, ein Phänomen, mit dem man etwa alle 2 , 7 Jahre rechnen kann. Ich wusste, dank einer an mir verschwendeten klassischen Ausbildung, dass die Griechen den Mond als Selene (später Artemis und Hekate) betrachteten, Schwester des Helios, die sich in den gutaussehenden jungen Schwan namens Endymion verliebte, von ihm fünfzig Töchter bekam und den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn sterben zu sehen, weshalb sie ihn in ewigen Schlaf versetzte. Als Gentleman in Oxfordshire erfuhr ich dank meiner Pächter von den Vorstellungen der Landbevölkerung, und sie versicherten mir, wenn die Spitzen der Mondsichel leicht nach oben zeigten, würde der Monat schön werden, und wenn man die Umrisse des Mondes sehen konnte, drohte Regen. Eine mürrische Küchenmagd, mit der ich als älterer Teenager drei- oder viermal wechselseitigen Oralsex hatte, glaubte, dass sich das Geld innerhalb eines Monats verdoppelte, wenn man sich vor dem Neumond verbeugte und alle Münzen, die man in der Tasche hatte, umdrehte. Das Einzige, was ich Nützliches über den Mond wusste, war sein lateinischer Name
luna
, daher auch der
Lunatismus
. Nützlich deshalb, weil ich ab Mitte August 1842 selbst am Mond irre wurde.
»Das ist der Tod«, sagte Arabella mit distanziert klingender Stimme. »Bei dir zu sein, dich zu sehen und zu spüren, aber nicht von dir erkannt zu werden. Das ertrage ich nicht.« Wir befanden uns im Arbeitszimmer in Herne House, ich saß in einem niedrigen Sessel, sie stand am kalten Kamin. Die geschlossenen Verandafenster des Zimmers gingen auf eine steinerne Terrasse und eine mit Blumenrabatten umsäumte Rasenfläche hinaus, Sommerfarben, die im aufflammenden und vergehenden Licht des Tages verblassten oder strahlten. »Und doch ertrage ich es.« Ich starrte auf den verblassten Teppich aus Bengalen. Mein Großvater hatte das Familienvermögen damit gemacht, dass er den Chinesen indisches Opium verkauft hatte. »Läuft es darauf hinaus?«, fragte Arabella. »Zu ertragen, was man nicht ertragen kann? Der Melodramatiker hat uns eine Lektion erteilt, die Rhetorik der Leidenschaft ist auf normale Größe zusammengeschrumpft? Ich nehme an, das
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