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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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einen ersten Vorgeschmack darauf, wie leid es mir war, wie erschöpfend dieses Abschiednehmen werden konnte. Es war, als habe der Entschluss zu sterben all die Energie aufgebraucht, die dazu nötig war, mich dem Tode zuzuführen.
    »Ich verschwinde ebenfalls«, meinte Harley und fügte dann mit satirischer Fröhlichkeit hinzu: »Ich mache einen Monat Urlaub. Ich will ja nicht hier sein, wenn sie dir den Kopf abschneiden, oder?«
    »Und wohin fährst du?«
    »In die Karibik. Barbuda. Ein geradezu traumhaftes Shangri-La. Gelangweilte Gattinnen von Neurochirurgen. Astronauten im Ruhestand. Die Chefetage der Pharmaindustrie. Die Broschüre wirkt fast wie aus dem Computer. Weißer Beton und ultramarinblauer Himmel. Ein makelloser Endpunkt der Moderne. Ich stelle mir eine Stille vor, die in Wahrheit aus dem leisen Summen der Klimaanlagen und Humidore besteht.«
    »Die Garderobe dafür hast du ja. Ich finde immer noch, du solltest nach Brasilien gehen. Zumindest wegen der Jungs. Du bist nicht tot, Harls, also lebe.«
    »Tja, Arzt, heile dich verdammt nochmal selbst.«
    Die Stille zwischen uns härtete langsam aus. Das konnten wir uns nicht leisten. Ich stand ein wenig unsicher auf den hohen Absätzen auf, sah, wie Harley augenblicklich dachte: ›Noch nicht, nicht so schnell, nicht so, warte.‹
    »Nichts, was wir sagen können, ist richtig«, erklärte ich. Harley starrte den Teppich an. Zigarettenasche fiel ihm auf die Hose. »Wir warten hier darauf, dass es nicht so schmerzhaft wird, dabei wird es nur noch schmerzhafter, je länger wir warten.«
    Harley rührte sich nicht. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zog heftig an seiner Zigarette und atmete durch die Nase aus. Eine Träne fiel ihm hörbar auf den Kragen. Der Augenblick verlangte Taten, doch wir hatten nur noch Reglosigkeit übrig.
Grundlage des Stehens: Du kannst nicht fliegen
.
    »Ich will dich noch was fragen«, sagte Harley endlich. »Damit ich dich das auch gefragt habe.«
    Ich wartete. Jemand schob einen Putzwagen an der Tür vorbei. Draußen hockte London stirnrunzelnd da und konzentrierte sich mürrisch darauf, die ökonomische Migräne zu überstehen. Schwer lastete das Gewicht der Fähigkeit dieser Welt auf mir, einfach weiterzumachen, einen einzigartigen Tag nach dem anderen weiterzuproduzieren, Kriege auszulösen und Gespräche zu führen, Babys blutig auf die Welt zu bringen und stumm die Toten zu verschlingen. Das kollektive menschliche Unbewusste erträgt ihn nicht, diesen Gedanken, dass das
alles
für immer so weitergeht, deshalb hat es beschlossen (kollektiv, unbewusst), den Planeten zu zerstören. Öko-Apokalypse ist kein Unfall, sondern tiefsitzende Strategie einer Spezies.
    »Tu’s nicht«, sagte Harley. »Lass mich nicht allein. Ich bring den Mut für einen Selbstmord nicht auf. Das weißt du. Was sind denn schon zehn weitere Jahre für dich? Bis dahin bin ich tot. Bleib einfach.«
    »Ich kann nicht.«
    »Du bist ein selbstsüchtiges Arschloch, weißt du das?«
    »Ja.«
    Wieder machte er den Mund auf, erkannte die Sinnlosigkeit und machte ihn wieder zu. Er zog ein zerknülltes weißes Taschentuch hervor und trocknete sich die Augen. Ganz langsam stellte er sein Glas ab und drückte die Zigarette aus. Er blickte mich an, und ich sah seine Angst vor allem, was jenseits dieses Augenblicks lag. Die Zukunft barg einen Schrecken – ihn selbst –, und er würde erst hinschauen, wenn er musste, wenn er keine Wahl mehr hatte, wenn ich fort war. Sein Gesicht erschauderte wie das Wasser auf den Flachdächern.
    »Und jetzt?«, fragte er, »sagen wir einfach adieu?«
    »Wir sagen einfach adieu.«
    »Du hast noch eine Woche. Du wirst deine Meinung ändern.«
    »Komm her.«
    Er fühlte sich in meinen Armen an wie ein alter Mann, Haut und Knochen in einem ausgebeulten Anzug, schüttere Haare und der Geruch der Kopfhaut. Dazu noch etwas Medizinisches, Tigerbalsam oder Wick. Aus Gewohnheit ging ich meine Gefühle durch, brachte Traurigkeit hervor, Bedauern und so etwas wie Verlust, aber auch die nicht zu leugnende Langeweile und eine Art Ohnmacht des Herzens.
Genug
, sagte meine innere Stimme immer wieder,
genug, genug
.
    An der Tür drehte ich mich um und schaute ihn an. Er hatte nichts zu sagen, vielleicht auch zu viel. Er sah mir nur mit feuchten Augen nach, und seine Hände wurden zusehends schwer unter dem Sand seiner Zukunft. Jeder Akt des Abschieds fühlt sich wie ein Sieg an. Dieser hier war winzig, klein, schlecht, fast nichts.
    Harley blieb

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