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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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herabgereicht. Ich hatte mir vorgestellt … ja,
was
hatte ich mir eigentlich vorgestellt? Mich wie Anne Boleyn hinknien, während sich das Mondlicht in Grainers Klinge spiegelt? Im Lotussitz hocken und in den Lauf einer mit Silber geladenen Waffe grinsen? Jedenfalls hatte ich mir vorgestellt, es einfach geschehen zu lassen. Stille, Sterne, Ehrfurcht vor den letzten gütig gleichgültigen Dingen. Ein glücklicher Tod.
    Die Tür ging auf, Madeline kam herein, ohne Begleitung, mit einer kleinen ledernen Reisetasche. Dazu die Schlüssel für die Handschellen. Sie schloss die Tür hinter sich und stellte die Tasche auf den Boden. Dann half sie mir auf die Beine und schloss die Fesseln auf. Alles genau nach Anweisung, wie mir klarwurde. Madeline gab eine schwüle Hitze von sich. Im Ausschnitt ihres schwarzen Neckholdertops glänzten ihre Brüste feucht. Eine der angeklipsten Haarsträhnen hing herab. Es war erschütternd, sie so zu sehen, ihrer professionellen Schale beraubt, ein Mensch voller Angst. Gefährlich: Die kunstlose Menschlichkeit ließ sie fatal appetitlich erscheinen. Sie war zu tiefen Empfindungen gezwungen worden, und nun wollte ich sie töten und fressen. Meine Zeit mit ihr war vorbei, so oder so.
    »Ich soll dir was sagen«, erklärte Madeline. Was sie zu mir gesagt haben. »Ich soll dir sagen: ›Nehmen Sie es als Anreiz.‹ Und jetzt sollst du die Tasche öffnen.«
    Sie hatte nicht hineingeschaut. Das war ihr untersagt worden. Sie hatte die Tasche im Fahrstuhl nach oben gebracht und so getan, als sei sie überhaupt nicht vorhanden, als würden ihre Hand, ihr Arm, ihre Schulter, die ganze Körperhälfte die Tasche nicht halten. Aber natürlich wusste das niedere Tier in ihr Bescheid. Das niedere Tier in ihr wusste es, das höhere Tier errichtete die Eiswand des Leugnens. Madeline sagte nichts, sie lehnte sich nur an die Tür, wobei sie ihre Schultern ein ganz klein wenig höher gezogen hatte als üblich; ich kniete mich hin, zog den Reißverschluss auf. Der Instinkt sagte ihr, es würde sich um einen bedeutenden Augenblick handeln. Sie würde später vielleicht nicht mehr einfach so weitermachen können wie bisher. Diese Möglichkeit versetzte sie in einen Wachzustand, den sie bislang nicht gekannt hatte, so als habe man sie plötzlich ein paar hundert Meter in die Höhe gehoben. Insgeheim fragte ich mich, was wohl aus ihr werden würde. Dieser langsame, zermürbende Drang, dieses sich unausweichlich entwickelnde Interesse an den Menschen habe ich so satt. Du liebst das Leben, weil es nichts anderes gibt, hatte Harley gesagt. Es gibt keinen Gott, und das ist sein einziges Gebot.
    In der Reisetasche befand sich eine zweite Tasche aus robustem, klarem Plastik, fest mit Klebeband verschnürt. In der Tasche befand sich Harleys Kopf.

20 .
    Über Harleys Mund klebte ein Zettel mit einer Botschaft: ES WAR NICHT SCHMERZLOS . ES WAR NICHT SCHNELL .
    »O mein Gott«, sagte Madeline. Sie stand mit leicht vorgebeugten, nackten weißen Schultern und in die Taille gestemmten Händen da. »Verdammte Scheiße.«
    Sie hatten ihm das Gesicht zerdroschen. In aller Ruhe, konnte ich mir denken. In den Plastikfalten standen die Blutbläschen wie bei vakuumverpacktem Rindfleisch im Supermarkt. Sie hatten dafür gesorgt, dass er die Augen offen hatte.
    Bleib einfach
, hatte Harley gesagt.
    Es wäre erfreulich, wenn ich sagen könnte, ich sei in Tränen ausgebrochen. Doch das tat ich nicht. Der Augenblick brachte einfach nur das Inventar all der Gefühle, die ich hätte hegen sollen, aber nicht tat, auf den neuesten Stand. Ich öffnete vorsichtig die Versiegelung, griff hinein und zog Harley den Zettel vom Mund. Unwillkürlich ging mir das Bild durch den Kopf, wie ich selbst diesen Zettel über Grainers Lippen klebte, nachdem ich ihn aufgespürt und umgebracht hatte, aber genau das war natürlich die Idee dahinter. Grainers Idee. Ellis hätte Harley am Leben gelassen. Ellis setzte auf Schuld, Gewissen, Verantwortung – meine. Grainer setzte auf Rache – meine. Neues versus Altes Testament.
    »Jake?«, fragte Madeline, »ist der echt? Der ist doch nicht echt, oder?«
    Ich drückte Harley die Augen zu. Das muss man. Die offenen Augen eines Toten sind Travestie, Parodie, eine Verhöhnung des Verstorbenen. Die offenen Augen eines Toten vollziehen die obszönste Ablenkung von allen, sie zeigen den Mensch ohne sein Leben. Ich wusste nun, dass ich all die Male, in denen ich mir Harleys erholsame Einsamkeit nach meinem Ableben

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