Der letzte Werwolf
sprangen zurück, die beiden Fleischbrocken mit erhobenen Waffen, der Betäubungsschütze mit einem unbezahlbaren Falsettogekreische.
Sofort hörte ich wieder auf, stellte mich hin, schüttelte bedauernd den Kopf und gewann so einen Teil meiner Würde zurück. Die Tischplatte, auf der ich aufgewacht war, entpuppte sich als große Metallkiste. Ich schlenderte hinüber, legte mich hin, verschränkte die Arme auf dem Bauch und schlug die Knöchel übereinander. Jacqueline lachte mit charmant gedämpftem Wohlklang.
»Verdammt nochmal«, meinte Babyface.
»Er spielt mit euch«, erklärte Jacqueline. Dann wandte sie sich an den Schützen: »Stell dich um Himmels willen nicht so an wie ein Kleinkind. Mach die Kameras aus.«
Ungeachtet aller Nonchalance hatte ich einen mörderischen Hunger. Und saß in einem Käfig. Im Geiste sprang ich ein paar Stunden vor zu der Cold-Turkey-Szene aus jedem beliebigen Heroinjunkie-Film. Bitte, Mann, irgendwas, du musst mir was geben. Ich schaff das nicht. O Gott, das tut so weh.
Jacqueline trat vor und hielt sich an den Gitterstäben fest, Fingernägel farblich passend zum Oberteil rot lackiert. »Jacob«, sagte sie auf Englisch, »das Ganze tut mir leid. Es ist nicht so, wie es scheint, versprochen. Ich weiß, Sie können im Augenblick nicht antworten, also lassen Sie mich das Reden übernehmen. Ich heiße Jacqueline Delon. Ich möchte schon seit einer ganzen Weile mit Ihnen reden. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten. Aber das kann warten. Sie fragen sich bestimmt, wo Sie sind.«
Ich rührte mich nicht. Der Käfig war am Boden festgenietet. Abgesehen von ein paar Holzkisten, Seilknäueln, aufgerollter Persenning und einem halben Dutzend Ölfässern war der Laderaum leer.
»Sie befinden sich an Bord des Frachters
Hecate
auf dem Weg nach Biarritz, wo ich ein gemütliches Plätzchen habe und wir hoffentlich eine für beide Seiten lohnende Unterhaltung führen können. Abgesehen von der gegenwärtigen unwürdigen Situation, für die ich mich noch einmal entschuldigen möchte, habe ich nicht die Absicht, Ihnen Schaden zuzufügen, und sobald Sie kein Risiko mehr für mich oder meine Besatzung darstellen, was in …« sie sah auf ihre Uhr »… etwa acht Stunden sein sollte, gebe ich Ihnen die Freiheit wieder und werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie für diese Unannehmlichkeiten zu entschädigen. Bitte akzeptieren Sie als Friedensangebot mein Geschenk an Sie. Sie finden es in dem Behältnis, auf dem Sie liegen.«
Sie trat zurück und befahl leise: »Gehen wir.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, bin ich.«
»Und die Kameras?«
»Lasst sie aus. Ich habe, was ich wollte.«
Die Männer gingen ihr voran. Am Schott zum Laderaum blieb sie stehen und sah zu mir zurück. »Ich bin so froh, Sie endlich zu sehen«, sagte sie. »Sie sind genau so, wie ich es mir erhofft hatte. Ich bin mir sicher, dies könnte der Beginn von etwas Außergewöhnlichem werden.«
Nachdem sie fort war, zwang ich mich, still zu liegen, und lauschte, wie der Hunger die Lautstärke in meinem Blut immer höher drehte und mein Herz pochte wie das Wummern eines Autos, in dessen Stereoanlage der Bass voll aufgedreht war.
Bleib ruhig liegen.
Eine idiotische Ermahnung.
Bleib ruhig liegen.
Denn du und ich wissen.
Bleib ruhig liegen.
Was sich unter uns in der Kiste befindet.
22 .
Es ist kein Zufall, dass die großen Moralphilosophen unweigerlich auch über Ästhetik schrieben. Sich zu fragen, warum etwas richtig oder falsch ist, gleicht der Fragestellung, warum etwas schön oder hässlich ist. Heutzutage spielen auch die Wissenschaftler mit: In den unbeweisbaren kosmologischen Randgebieten herrscht Schönheit. Mathematische Modelle ähneln Supermodels: Sie haben Grazie, Symmetrie, Eleganz. Kaum überraschend. Nachdem die Moderne absolute moralische Werte und objektive Wirklichkeit abgeschafft hat, ist nur noch Schönheit übrig. Für welche Theorie würden wir nicht eintreten, solange sie nur schön ist? Welche Grausamkeit würden wir nicht entschuldigen?
Welchen Instinkt (um bei der Geschichte zu bleiben, wie Madeline dies gerngehabt hätte) würden wir nicht überwinden?
Eine ganze Weile stand ich da, umklammerte die kalten Eisengitter meines Käfigs mit den warmen, tödlichen, behaarten Händen und widerstand der Versuchung, die Kiste zu öffnen. Ehrlich gesagt war ich ein wenig seekrank. Meine Schnauze war trocken. Jenseits meiner Umzäunung machte der Vollmond seine unerschöpflichen
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