Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
Kunst war für die Allgemeinheit bestimmt. Etwas in Weynfeldt sträubte sich dagegen, die Intimität der Szene zu zerstören, indem er sie der Öffentlichkeit preisgab.
    Er wusste, dass das Unsinn war. Aber weshalb sollte er das Bild nicht noch ein paar Tage ganz für sich allein haben?
    Es klingelte. Weynfeldt ging zur Tür und meldete sich an der Gegensprechanlage. Es war Rolf Strasser. Er bat ihn zu warten und ging zum Lift.
    Strasser war betrunken. Das war keine Überraschung für Weynfeldt, Rolf war um diese Zeit meistens betrunken. Die Frage war nur, in welchem Stadium der Trunkenheit er sich befand. Das luzide hatte er wohl bereits im Agustoni hinter sich gebracht, als er die auf ein paar ganz Ausdauernde zusammengeschrumpfte Tischrunde bei einer oder zwei Extraflaschen Brunello zum Lachen brachte. Das dumpfe hatte er hoffentlich mit einer späten Siesta auf seinem Sofa im Atelier vertrieben. Das verkaterte hatte er bestimmt mit einem Apero in einer seiner Stammkneipen überwunden. Jetzt fragte sich nur, ob er noch im friedliebenden, bereits im sentimentalen oder schon auf der Schwelle zum aggressiven war.
    Weynfeldt führte ihn ins Von-der-Mühll-Zimmer, und Strasser setzte sich mit einem vorwurfsvollen Blick auf die harten, kantigen Sessel.
    »Nimmst du auch einen Schluck Weißen?«, fragte Weynfeldt. Er hatte eine Flasche Twanner kaltgestellt und zeigte Strasser das Etikett.
    »Hast du auch Bier?«, erkundigte sich Strasser.
    Strasser trank Bier, wie andere Leute, wenn sie eine kleine Trinkpause machen wollen, Mineralwasser trinken. Das bedeutete, dass er sich noch nicht in der aggressiven Phase befand und diese noch etwas hinauszögern wollte. Weynfeldt ging in die Küche und holte Bier. Er hätte auch warten können, bis Frau Hauser die Winzigkeiten brachte, und bei ihr das Bier bestellen. Aber dies wäre eine weitere Niederlage im Kampf gegen ihre Unentbehrlichkeit gewesen, den er schon seit Jahren auf verlorenem Posten führte.
    Kaum war er mit Bier und Glas zurück bei Strasser, kam sie auch schon mit dem ersten Tablett und überreichte ihm den Flaschenöffner, den er vergessen hatte.
    Strasser nahm einen Schluck, wischte sich den Schaum von den Lippen und fragte: »Wie lange kennen wir uns nun schon, Adrian?«
    Das klang nach sentimentalem Stadium.
    »Wann bist du aus Wien zurückgekommen?«
    Strasser dachte nach und trank dabei das Glas aus. »Vor etwas über zwölf Jahren.«
    »So lange kennen wir uns.«
    »So lange oder so kurz, wie man’s nimmt.«
    »Wie kommt es dir vor? Lange oder kurz?«
    Strasser schenkte sich nach. »Mir kommt es vor, als kennten wir uns schon ewig. Verglichen damit sind zwölf Jahre nichts.«
    »Komisch, wie einem die gleiche Zeitspanne lang oder kurz vorkommt, je nachdem, von welcher Warte aus man sie betrachtet.«
    »Weißt du, was schlimm ist? Wenn die Zeit läuft und man selbst stehenbleibt. Wie ich.«
    »Du bist doch nicht stehengeblieben«, protestierte Adrian.
    »Du mit deiner scheiß Höflichkeit. Natürlich bin ich stehengeblieben. Ich stehe heute genau dort, wo ich vor zwölf Jahren stand. Ach was: Vor zwölf Jahren war ich weiter. Da hatte ich noch eine scheiß Zukunft!«
    Weynfeldt merkte, dass Strassers Stimmung auf der Kippe stand. Es hatte keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Aber recht geben durfte er ihm auch nicht. »Ich kenne das. Man fängt den Tag an, und plötzlich wird einem klar, dass man schon Tausende solcher Tage angefangen hat. Dass er gleich verlaufen wird wie alle vor ihm und alle nach ihm. Ziemlich deprimierend, ich weiß.«
    »Bei mir ist das nicht nur ein Gefühl. Bei mir ist es eine Gewissheit.«
    »Bei mir vielleicht auch. Aber ich versuche sie wie ein Gefühl zu behandeln.«
    »Wenn ich dein Leben hätte, wäre ich sogar froh, wenn sich nichts daran ändern würde.«
    Wenn sie auf dieser Ebene angelangt waren, wurde Weynfeldt hilflos. Er mochte sich nicht rechtfertigen für seinen Wohlstand. Darauf angesprochen zu werden, hielt er für eine Taktlosigkeit, der er nichts entgegenzusetzen hatte.
    Dass Rolf das Thema aufbrachte, war für Weynfeldt das Zeichen, dass sie sich dem eigentlichen Grund seines Besuches näherten. Er half ein bisschen nach: »Hast du eine Idee, was du dagegen tun könntest? Ich meine, gegen die Stagnation, ob echt oder eingebildet.«
    »Neue Impulse. Ein Bruch. Neubeginn. Gehirnwäsche. Zurück auf Start.«
    Frau Hauser klopfte und trat gleich darauf mit weiteren Winzigkeiten ein. Sie stellte das Silbertablett auf den

Weitere Kostenlose Bücher