Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Erinnerung erwartete. Als er endlich unter der Dusche stand und seine Gedanken zuließ, entschied er, nicht anzurufen.
Wenn der Brief nicht einfach ein Scherz war, würde der Verfasser sich wieder melden. Er hatte ja Weynfeldts Nummer. Bis dahin galt die Unschuldsvermutung für alle Verdächtigen. Vor allem für Lorena.
Im Büro keine besonderen Vorkommnisse. Keine Anrufe von Journalisten, Experten, Polizisten. Kein Anruf des Mannes mit der bekannten Stimme. Aber auch keiner von Lorena.
Doch, ein besonderes Vorkommnis gab es zu vermerken: Véronique verließ das Büro den ganzen Vormittag nicht für eine ihrer Verpflegungspausen. Als er sich in die Mittagspause verabschiedete, wünschte sie ihm »Guten Appetit« in jenem vorwurfsvollen Ton, den er von so manchen ihrer Diätphasen kannte. Er ging nicht darauf ein, er hatte andere Sorgen.
Eine davon saß bereits am Donnerstagstisch im Agustoni und begrüßte ihn mit einem Kuss, der unter dem Personal für einiges Aufsehen sorgte und bei Adrian für große Erleichterung. Wenn Lorena etwas mit der Sache zu tun hätte, wäre sie nicht hier. Und falls doch, bestimmt nicht so unbefangen und ausgelassen.
Ihre Ausgelassenheit übertrug sich auch auf die anderen Gäste, die nach und nach eintrafen. Der Donnerstagstisch feierte den Rekordpreis von »La Salamandre« – noch nie hatte ein Vallotton einen so hohen Preis erzielt –, als profitierten sie alle persönlich davon. Und weil Lorena auf die Idee kam, ein Glas Champagner auf »La Salamandre« zu trinken, gingen alle zu Champagner über, bis Agustonis bescheidener Vorrat aufgebraucht war und er der empörten Runde seinen Prosecco aufschwatzen wollte.
Auch Strasser feierte mit. Er schien sich über den Preis so ehrlich zu freuen, dass Weynfeldt der Verdacht kam, Rolf könnte mit Baier eine prozentuale Abmachung haben und das Honorar für seine Arbeit sei durch das Auktionsresultat gestiegen.
Die Sache mit dem Brief und der Nachricht auf dem Beantworter war nur noch ein winziger Widerhaken irgendwo ganz hinten in Weynfeldts Hirn. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so glücklichen und unbeschwerten Donnerstagstisch erlebt zu haben. Für den Abend verabredete er sich mit Lorena bei sich zu Hause. Diskret, aber nicht diskret genug, als dass es Alice Waldner nicht mit einem ebenfalls diskreten Lächeln zur Kenntnis genommen hätte.
Nichts deutete darauf hin, wie katastrophal sich der Tag weiterentwickeln würde.
Er kam beschwingt und verspätet ins Büro. Véronique empfing ihn mit der Laune einer dicken Frau mit leerem Magen. Sie hatte ihm die Pendenzen auf den Tisch gelegt. Es waren vier säuberlich gebündelte Stapel. Einer aus ausgedruckten Mails, einer aus geöffneten und mit ihren Kuverts zusammengehefteten Briefen, einer aus internen Pendenzen und einer aus Nachrichten, nach Dringlichkeit geordnet.
Die dringendste war eine Bitte um Rückruf bei Hartmann, dem Direktor der Bankfiliale, die bei Weynfeldt eingemietet war.
Er rief zurück und wurde durchgestellt. Ob er nach Schalterschluss kurz bei ihm reinschauen könne. Es handle sich um eine etwas… ähm… unangenehme Sache, die sie in beider Interesse so bald wie möglich hinter sich bringen sollten. So redete Hartmann immer. Weynfeldt versprach, um halb sechs kurz reinzuschauen.
Die zweitdringendste lautete: »Nicht zurückrufen ist keine Lösung. Gruß vom Mann vom Anrufbeantworter und vom Belotel, Zimmer 212.« Daneben stand eine Handynummer und Véroniques Bemerkung: »Hat er so diktiert und vorlesen lassen. Was du für Leute kennst!«
Weynfeldt griff sich mit der rechten Hand in die Haare und massierte die Kopfhaut mit den fünf Fingern. Als könnte er so seine Gedanken beschleunigen.
Was hieß das, was hieß das, was hieß das? Das war Lorenas dubioser Geldeintreiber. Aber woher wusste er das mit dem Bild? Lorena hatte es ihm erzählt. Aber weshalb? Sie war ihn noch nicht los. Sie schuldete ihm immer noch etwas. Sie war immer noch in seiner Hand. Er hatte Druck ausgeübt. Und sie hatte ihm den Tipp mit dem Bild gegeben. Das war nicht schön. War es verzeihlich? Es war verständlich, er war dem Kerl zweimal begegnet. Der konnte einem Angst einjagen. Also war es verständlich. Und alles Verständliche ist verzeihlich. Nicht wahr? So war das doch: Alles Verständliche verzeihlich?
»Ist dir nicht gut?«, fragte Véroniques Stimme von der Tür her.
»Warum?«
»Du bist weiß wie ein Leintuch.«
»Mir ist ein bisschen schlecht.«
»Ich
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