Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
könnte die Geschichte als anonyme Nachrichtenmeldung bringen, und den Gerüchten in ihrer Mittwochskolumne dann in Bausch und Bogen den Garaus machen und trotzdem würden sie sich hartnäckig halten.
Anstatt sich jedoch auf schnellstem Wege ins Büro zu begeben, kurvte Paddy wie betäubt umher, bog in Straßen ein, die sie von der Redaktion entfernten, umkreiste langsam das Stadtzentrum und fuhr schließlich auf den Fluss zu.
Das Licht über der Kellertür war grell und schmerzte in ihren Augen. Es war ein dunkler Stadtteil, ein enges Straßengewirr zwischen Lagerhäusern am Südufer des gemächlich dahinfließenden Flusses, in einer Gegend, die einst ein florierendes Handelszentrum am Hafen war. Darüber schwebte feuchte Kälte. Als Paddy aus dem Wagen stieg und über die Straße zur Tür ging, schlug ihr die nasskalte Luft ins Gesicht und sie fröstelte in ihrem dünnen Kleid.
Samstags war in der Suppenküche nie viel Betrieb. Alle, die dort arbeiteten, hatten eine andere Theorie, weshalb: An Wochenenden waren selbst die Obdachlosen irgendwo eingeladen, oder zu betrunken, um es bis in die Suppenküche zu schaffen. Außerdem verschenkten manche Imbisse nach Feierabend übrig gebliebenes Essen, und für diese Art Almosen musste man weder nüchtern bleiben noch beten.
Zwei Männer saßen in ihren Mänteln an einem Tisch in der Nähe der Tür, vor sich Krümel und leere Suppenschalen. Einer schlief, der andere blinzelte, verwirrt und unschuldig wie ein verlassenes Kind. Zwei weitere Männer saßen näher am Tresen und aßen. Einige waren ordentlich gekleidet, mit Anzügen oder sauber gebügelten Jeans. Im Talbot Centre musste wieder einmal saubere Kleidung verschenkt worden sein. Die Edelstahltheke glänzte im Licht der Neonleuchten. Außer Reichweite standen dahinter Tabletts voller Butterbrötchen, aus denen rotes Fruchtgelee tropfte. Neben einem Turm Suppenschüsseln stand ein riesiger Topf auf dem Tresen, ein Elektrokessel aus Plastik, der an eine Steckdose in der Wand angeschlossen war.
Schwester Tansy war alleine hinter der Theke, hatte den Mund in Falten gelegt wie ein zugezogener Matchbeutel, ihre Augen musterten alles, was sich in ihrem Blickfeld befand mit Verachtung. Schwester Tansy trug das lange weiße Gewand, das die Nonnen immer in der Küche trugen. Damit wirkte sie wie eine Mischung aus Schulkantinenköchin und Ärztin. Sie sah Paddy näher kommen, zog in stiller Entrüstung die Schultern hoch und tat, als fordere der linsenverkrustete Suppenkessel ihre ganze Aufmerksamkeit.
Als Paddy einmal behauptet hatte, Schwester Tansy sei nur noch einen einzigen trockenen Sherry davon entfernt, ein Massaker zu begehen, hatte Mary Ann laut losgelacht und sich die Hand vor den Mund gehalten.
»Hallo Schwester, ist Mary Ann da?«
»Nein«, fauchte Schwester Tansy und stocherte missmutig in dem Kessel herum, aus dem eine mehlig grüne Wolke aufstieg.
»Hm.« Paddy ließ sich nicht abwimmeln. »Ich muss sie sehen.«
»Äh, nun ja«, sagte die Schwester säuerlich, »ich denke, das ist wirklich nicht der Ort für …«
»Paddy.«
Mary Ann tauchte hinter Schwester Tansy auf und lächelte Paddy über deren Schulter hinweg zu. Sie trug den weißen Köchinnenkittel, die blonden Haare mit einem Haarnetz zurückgehalten, die Wangen rosig von der Küchenhitze.
»Hi.« Paddy starrte ihre Schwester an und allein ihr Anblick hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Alles okay?«
»Ja, prima.« Paddy bekam ein müdes Lächeln hin. »Wollte dich bloß sehen.«
Schwester Tansy trat zwischen sie und ließ ihr falsches Lachen hören.
»Äh, hä, hä, wir haben ziemlich viel zu tun, eigentlich.«
Paddy lehnte sich zur Seite, um Mary Ann noch einmal anzusehen. Sie grinste oder zwinkerte nicht und gab ihr auch sonst keinen Wink, trotzdem wusste Mary Ann genau, was Paddy dachte, und ihr Gesicht verzog sich zu einer angespannten Maske, bis sie beide Hände davorschlug und sich verzog, um auf dem Klo vor Lachen laut loszuprusten.
»Sie haben hier nichts zu suchen.« Schwester Tansy rührte schwungvoll in der Suppe. »Das wurde Ihnen bereits gesagt.«
»Schwester, die Polizei kam heute Abend zu mir, um mir mitzuteilen, dass eine mir nahestehende Person gestorben ist. Ich dachte erst, es sei Mary Ann, und hatte schreckliche Angst. Ich wollte sie nur kurz sehen.«
»Das ist kein Argument«, sagte sie, ihre Standardantwort auf Gnadengesuche. Schwester Tansy hätte dasselbe gesagt, wenn man ihr von Hiroshima erzählt
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