Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
nicht mal besonders dafür interessiert.«
Aoife schnaubte verächtlich und schlug die Beine übereinander. »Es braucht nicht viel, diesen Schweinen in die Quere zu kommen. Ich habe in Belfast unterrichtet. Hab ein paar echte Sauereien zu Gesicht bekommen. Die meisten sind bloß Schläger, die sich politisch rechtfertigen. Auf beiden Seiten. Blöde Wichser.«
Sie sah nicht nur aus wie ein Kind, sie redete auch so: unbedarft ordinär. Ihr Pferdeschwanz hatte sich seitlich gelöst, wahrscheinlich als sie geholfen hatte, die leblose Paddy zu tragen. Ihre Haare waren drahtig. Jede Strähne wirkte dicht und kräftig wie ein Pferdeschweif.
»Meine Güte, Sie haben vielleicht Haare auf dem Kopf«, sagte Paddy und ließ, jetzt da sie alleine waren, ihren irischen Akzent durchschimmern.
Aoife starrte sie kurz irritiert an. Dann platzte ein Lachen aus ihr heraus. Paddy lachte mit.
Die Gerichtsmedizinerin zeigte auf die Tür. »Hey, der dicke Typ da hat gesagt, dass Sie so was wie ein Promi sind.«
»Stimmt.« Paddy fuhr sich über das Gesicht. »Wüsste aber gerade nicht welcher.«
»Vielleicht sind Sie ja Sean Connery?«
»Das wär’n Ding, was?«, sagte Paddy lächelnd. »Dabei bin ich sogar schon Mutter.«
Wieder lachten sie zusammen, diesmal stiller. Aoife zeigte mit ihrer brennenden Zigarette auf sie. »Ich sag Ihnen eins: Nie und nimmer haben die Provos Ihren Kumpel auf dem Gewissen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Die machen das anders. Die schießen in den Mund oder in den Hinterkopf, normalerweise hinter dem Ohr, nicht in die Schläfe. Auf die Art könnte man jemandem einfach nur die Augen wegschießen, sodass er’s überlebt und eine Aussage machen kann.«
»Wieso glauben die dann, dass es die Provos waren?«
»Ich denke mal, weil Mord durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe außerhalb Nordirlands relativ selten vorkommt.«
Aoifes Augenlid zuckte verräterisch. Sie hatte sich gerade als Protestantin zu erkennen gegeben. Eine Katholikin hätte vom »Norden Irlands« gesprochen. Und sie musste wissen, wie es sich mit Paddys Sympathien verhielt, denn sie wusste, wie sie hieß.
Paddy beugte sich vor und berührte ihr Knie. »Hey, ist mir egal, wie Sie’s nennen.« Aoife lächelte bemüht. »Sie haben einen seltsamen Namen, für eine Protestantin«, fuhr Paddy fort.
»Stimmt. Mein Pa hat den Namen ausgesucht. Ich glaube, nur um meine Mutter zu ärgern. Die beiden haben sich damals schon nicht verstanden – aber Sie sind wegen der Kinder zusammengeblieben, die Guten.« Aoife lächelte sarkastisch.
»Tut mir leid.«
»Na ja, egal.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Verstehen Sie sich mit Ihrem Ehemann?«
»Ich bin nicht verheiratet.« Paddy stand auf und strich sich den Rock glatt.
Aoife zwinkerte. »Aber Sie waren verheiratet?«
Paddy schüttelte den Kopf und hielt nach ihrer Tasche Ausschau. Sie hatte bereits erwähnt, dass sie ein Kind hatte – also gab es kein Zurück mehr.
Wenn Männer erfuhren, dass sie alleinerziehende Mutter war, gaben sie sich meist verständnisvoll, oder aber sie hielten sie für eine Schlampe und betrachteten die Information als Einladung, es drauf ankommen zu lassen. Frauen dagegen hatten Mitleid. Paddy fürchtete sich davor, Aoife anzusehen. Sie mochte sie, aber sie wusste auch, woher sie kam. Sie wusste, wie sehr der Druck der Anstandsregeln auf irischen Familien lastete und wie über alleinerziehende Mütter hergezogen wurde.
»Wie alt ist Ihr Kind?« Aoifes winziges Gesicht blieb regungslos, aber ihre Mundwinkel zuckten leicht.
»Fünf. In ein paar Monaten wird er sechs.« Paddy nahm ihre Tasche vom Boden und wandte sich zum Gehen Richtung Tür. »Er heißt Pete.«
»Oh!«, rief Aoife aus, um ihren missbilligenden Blick wiedergutzumachen. »Das ist ein sehr schöner Name.«
»Nach einem alten Freund«, sagte Paddy, öffnete die Tür und zog sie hinter sich zu.
III
Die Redaktionsräume der Daily News lagen nicht weit vom Leichenschauhaus entfernt. Eine engagierte Journalistin wäre zu Fuß hingerannt, um ihren Exklusivartikel zu verfassen. Egal, was dahintersteckte, der Mord an Terry würde dicke fette, skandalträchtige Schlagzeilen bringen. Die Presse würde sich darauf stürzen, weil man es so aussehen lassen konnte, als nehme man sich edelmütig eines lebensgefährlichen Unterfangens an, und die schottische Öffentlichkeit würde die Nachrichten verfolgen, in der Erwartung, man stehe bereits an der Schwelle zum Bürgerkrieg. Sie
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