Der letzte Winter
Bildschirm, als wäre er ebenfalls lebendig geworden, gefährlich. Steckten darin auch Worte?
26
W inter fuhr mit seinem Mercedes durch die schönen Straßen östlich von der Sankt Sigfridsgatan. Über Örgryte ruhte der Friede des zweiten Weihnachtstages, noch immer war es friedlich auf der Welt. Er bog nach rechts und gleich darauf noch einmal nach rechts in die nächste Parallelstraße ab.
Es war ein Holzhaus, gepflegt und frisch gestrichen. Vielleicht war es in so gutem Zustand, weil das Ehepaar Carlix jetzt Zeit hatte und sich nicht mehr zwischen zwei Kulturen zerreißen musste.
Er stieg aus dem Auto. Die Haustür wurde geöffnet. Die Frau in der Tür wartete auf ihn, während er den geharkten Schotterweg hinaufging. Unter seinen Schuhen knirschte es, als wäre es Frühling. Vielleicht war es meteorologisch Frühling. Das Thermometer unter dem Auto hatte neun Grad angezeigt. In Höhe von Liseberg hatte er den Sonnenschutz herunterklappen müssen. Die Attraktionen im Vergnügungspark hatten einsam im Sonnenschein gewirkt, vergessen, als hätten sie ihren Wert als Maschinen der Freude eingebüßt.
Louise Carlix gab ihm die Hand. Er traf sie zum ersten Mal. Sie hatte dunkle Haare und war ziemlich klein, trug einen Rock und eine Strickjacke, die keinesfalls aussah wie eine traditionelle Großmutter-Strickjacke. Diese war auffallend farbenfroh. Louise Carlix wirkte jung, jünger, als er erwartet hatte. Winter wusste, dass sie nur zwei Jahre älter war als er. Sie hatte ihre Tochter in sehr jungen Jahren bekommen. Er hatte bis in die mittleren Jahre gewartet. Gloria war ihr einziges Kind. Louise Carlix würde nie Großmutter werden. Alles war für immer brutal abgeschnitten. Er konnte ihre Trauer und ihr Entsetzen kaum ermessen. Und ihren Zorn. Sie hatte sich über ihren Schwiegersohn geäußert. Ihre Worte waren in den Unterlagen festgehalten, schwarz auf weiß. Dann hatte sie nicht mehr darüber gesprochen, hatte ihre Anklage nicht wiederholt. Vielleicht würde sie es jetzt tun.
»Sie sind der Kommissar, nehme ich an«, sagte sie.
Er nickte und griff nach seiner Geldbörse und dem Dienstausweis in der Innentasche seines Mantels.
»Das ist nicht nötig«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass Sie ein Betrüger sind. Bitte, treten Sie ein.«
Er folgte ihr ins Haus. Die Diele war lang und schmal, fast wie ein Tunnel, der weit entfernt in Licht mündete. Sie gingen auf das Licht zu. Auf der Rückseite des Hauses lag ein großer Raum, der nach Nordosten wies. Der Garten badete in der Vormittagssonne. Die Zimmerwände waren mit Bücherregalen bedeckt. Winter nahm den Geruch nach Bibliothek wahr, ein Duft seiner Kindheit, der vielleicht auch von den Möbeln ausging, den Ledersesseln und einem Sofa, das genauso alt sein mochte wie er, vermutlich noch älter. Hier drinnen roch es nach altem Geld.
»Setzen Sie sich bitte.« Sie zeigte auf einen der Sessel. »Kann ich Ihnen etwas anbieten, Kaffee, Tee?«
»Danke, gern einen Kaffee«, sagte er. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
Sie antwortete nicht, verließ das Zimmer und verschwand. Er hörte ihre Schritte auf den Steinfliesen in der Diele. Er hatte Fußbodenwärme gespürt, als er Louise Carlix in Socken gefolgt war. Eine schwedische Sitte, die Schuhe in der Diele auszuziehen. Das einzige Volk, mit dem sich die Schweden die Sitte teilten, waren die Japaner. Winter sah sich in dem riesigen Wohnzimmer um. An den Wänden hing Kunst, die kostbar wirkte. Gute Kunst. Er kannte keinen der Künstler. Auf einem Tisch am hinteren Ende lagen einige große Bände, vielleicht Landkarten, Blumenbücher, Kochbücher, überall verteilt frische Schnittblumen, an verschiedenen Stellen, in verschiedenen Vasen im Zimmer. Grünpflanzen in den hohen Fenstern. Kein Tannenbaum. Es roch nicht nach Weihnachten, auch in der Diele hatte er nichts gerochen. Er konnte keine Hyazinthen entdecken. Sie waren Teil des speziellen Weihnachtsduftes in schwedischen Wohnungen, aber hier gab es ihn nicht. Nur den ewigen Geruch von Geld, Staub, Leder und Trauer.
Louise Carlix kam mit einem Tablett zurück, zwei dampfende Tassen darauf, auf einem Teller Gebäck. Er wusste aus Erfahrung, dass Tassen und Teller auf dem Tisch immer beruhigend wirkten bei einem Gespräch wie diesem, das kein Verhör war.
»Muss mein Mann auch dabei sein?«, fragte sie, nachdem sie sich Winter gegenüber auf das Sofa gesetzt hatte. »Ihm geht es noch nicht gut nach der Lungenentzündung. Sie ist noch nicht ganz
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