Der letzte Winter
für immer zurückgekehrt, erst recht jetzt, da das gute alte Nueva plötzlich ein bedrohlicher Ort geworden war. Ihr Sohn war hier erschienen und hatte es zu einem bedrohlichen Ort gemacht.
Aber vielleicht ist es das auch immer gewesen.
»Irgendwas … habe ich … mal gehört«, sagte sie nach einer Weile. »Da ist irgendetwas passiert.«
Er wartete auf die Fortsetzung.
Sie schaute ihn an.
»Genau kann ich mich nicht erinnern.«
»Holst und Lentner«, sagte Winter.
»Ja, das habe ich verstanden. Aber ich kann mich trotzdem nicht erinnern. Es war …« Sie brach mitten im Satz ab.
»Was wolltest du sagen?«
»Es war etwas anderes.«
»Etwas anderes? Was denn?«
»Ich … irgendetwas, das Bengt mir erzählt hat, was er irgendwo gehört hatte.«
»Gehört? Was hat er gehört? Ging es um Lentner und um Holst?«
»Ja … nein … ja, um sie ging es wohl. Aber er … ich weiß es nicht, Erik. Ich weiß es wirklich nicht. Es muss da noch … einen anderen Namen geben.«
»Einen anderen Namen?« Winter spürte einen Windhauch im Nacken, ein Schaudern. »Gibt es noch einen Namen?«
Sie dachte nach. Sie schaute zurück, in den Garten vor dem Fenster. Neunzehn Jahre zurück. Damals war Winter dreißig gewesen, ungefähr im selben Alter wie Martin, Madeleine, Erik und Gloria jetzt. Er hatte gerade im Fahndungsdezernat angefangen. Die Zukunft hatte noch vor ihm gelegen.
»Es … ging … auch um jemand anderen«, sagte sie und sah ihren Sohn wieder an. »Vielleicht war es nur Klatsch. An so einem Ort wird ja ziemlich viel getratscht, das wirst du verstehen. Die Leute … hocken ziemlich nah aufeinander. Keiner, der wirklich arbeitet. Aber jetzt erinnere ich mich, dass eine Familie weggezogen ist, nachdem … etwas passiert war. Aber das … ich nehme an, es wurde vertuscht. Wir waren Meister darin, Sachen zu vertuschen, falls du verstehst, was ich meine.«
»Du sagst, es ging um eine weitere Person. Um wen ging es denn?«
»Ich kann mich nicht erinnern … Da war irgendetwas, das Bengt erzählt hat, glaub ich.«
»Bengt ist nicht hier!«
Sie zuckte zusammen. Er war laut geworden. Er war zu weit gegangen. Er hatte nicht geglaubt, dass es ausgerechnet jetzt mit ihm durchgehen würde.
»Entschuldige, Mama.«
Sie nickte. Er sah Tränen in ihren Augen. Was für ein geschickter Verhörleiter er war. Bis eben hatte er versucht, es zu sein, und jetzt hatte er alles vermasselt.
»Denk doch bitte weiter nach«, sagte er. »Versuch dich zu erinnern, egal, an was.«
Wieder nickte sie. Sie hatte einen kleinen Ziergegenstand vom Fensterbrett genommen und bewegte ihn von einer Hand in die andere. Der Gegenstand war ihm vertraut. Es war eine kleine Zigeunerin, deren starke Farben nicht verblichen waren, seit sie irgendwann in den fünfziger Jahren bei Winters gelandet war. Sie war schon vor ihm im Haus gewesen. Als Kind hatte er die Zigeunerin oft betrachtet. Sie hatte exotisch ausgesehen. Vielleicht kam sie von der Costa del Sol, am Rande der Golfplätze standen Schuppen, in denen Zigeuner wohnten. Siv Winter fingerte an der Figur herum. Sie war jung, keine Wahrsagerin, die Jahrmarktsbesuchern im Wohnwagen die Zukunft voraussagte. Sie war fröhlich. Es beruhigte Siv, sie zu berühren. Oder es half den Gedanken, der Erinnerung. Es war Therapie.
»Gibt es einen weiteren Namen?«, fragte Winter.
»Ich … glaube ja.«
»Fällt er dir ein?«
»Ich … glaube nicht, Erik.«
»Wer könnte ihn kennen?«
»Wie meinst du das?«
»Gibt es jemanden, der mehr darüber wissen könnte? Jemand von da unten? In Nueva oder in einem anderen Ort entlang der Küste. Jemand, den ich fragen kann?«
»Lass mich mal nachdenken«, sagte sie. »Willst du denn runterfahren?«
»Eigentlich nicht.« Er stand auf und streckte den Nacken. Er hatte sich mehr verspannt, als ihm bewusst geworden war. Es war das erste Mal, dass er seine eigene Mutter verhört hatte.
»Erik …«
»Ja?«
»Müssen wir morgen … darüber sprechen? Silvester? Können … wir es nicht lassen?«
»In Ordnung.«
»Heiligabend hat gereicht.«
»Ja.«
Er entfernte sich einen Schritt vom Sofa. Ihre letzten Worte hatten ihn daran erinnert, dass er einen Film ansehen musste.
Zuerst war da nur Dunkelheit, wie Nacht ohne künstliches Licht. Eine Nacht, wie sie früher einmal gewesen war, hatte sie gedacht, einer von Tausenden Gedanken, die in den ersten Minuten durch ihren Kopf gerast waren. Sie konnte noch immer nichts sehen. Ihre Augen waren
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