Der letzte Winter
wenn man sie mit dem verglich, was sie im Nacken spürte.
»Sie … sie wissen, dass ich hierhergegangen bin«, hörte sie sich sagen. Es klang nicht überzeugend. Es klang genau wie die Lüge, die es war.
»Warum tragen Sie keine Uniform?«, fragte er.
»Wie … was meinen Sie?«
»Sie sind Polizistin. Ich habe Sie schon einmal gesehen, darüber brauchen wir also nicht zu diskutieren. Ich habe Sie hier gesehen, in diesem Haus. Ich habe Sie im Streifenwagen gesehen. Aber warum tragen Sie heute keine Uniform?«
Heute. Mehr Zeit war also nicht vergangen. Es war überhaupt keine Zeit vergangen. Noch würde sie niemand vermissen. Nach ein, zwei oder drei Tagen würde die ganze Welt sie vermissen. Sie suchen. Die ganze Welt.
»Ich … trage nicht ständig Uniform.«
»Aha, Sie sind also nicht im Dienst.«
Sie antwortete nicht.
»Und trotzdem sind Sie hergekommen.«
Jetzt hörte sie ein anderes Geräusch. Eine Uhr schlug. Sie versuchte, die Schläge zu zählen, drei, vier, fünf, sechs, sieben, ach…
»Warum sind Sie hierhergekommen?«
Die Schläge waren verstummt. Sie hatten … normal geklungen, wie etwas aus der … anderen Welt, der wahren Welt. Dies war nur ein Traum. Sie würde aufwachen. Jemand würde sie knei…
Sie spürte einen Stich im Nacken. Es fühlte sich nicht mehr so kalt an. Jetzt war es kalt. Jetzt war es warm. Jetzt war es kalt.
»Wenn niemand weiß, dass Sie hier sind, ist es nicht so gefährlich, nicht wahr?«
Kalt, jetzt war es nur noch kalt. Solange es kalt war, fühlte sie sich ruhiger. Es war das falsche Wort. Hatte sie keine so große Angst. Nicht so eine furchtbare Angst um ihr Leben. Aber sie hatte Angst um ihr Leben.
»Dann wissen es nur Sie und ich, nicht wahr? Und jemand anders braucht es auch nicht zu wissen, nicht wahr?«
Sie versuchte zu antworten. Es ging nicht. Ihr Mund war wie zugekleistert. Sie konnte nicht schlucken. Ihr Hals schien voller Sand zu sein, so dass sie kaum Luft bekam.
»Sie waren neugierig, nicht wahr?«
Sie konnte nicht antworten. Sie war kurz vorm Ersticken und musste unbedingt etwas trinken.
»Sie waren zu neugierig«, sagte er.
Jetzt konnte sie wieder schlucken. Der Sand schien ihren Hals hinunterzurieseln. Sie sah das Bild von einem Strand. Wogen rollten gegen das Ufer. Am Wassersaum war der Sand härter. Sie sah einen Eimer und einen Spaten, sah sich selber. Sie war ein Kind.
»Gerda Hoffner.«
Er kannte ihren Namen. Natürlich kannte er ihn. Er hatte ja nur in ihrer Umhängetasche nachsehen müssen. Darin steckte ihre Brieftasche. Alles war darin. Darin ist mein Leben enthalten. Ein Foto von mir am Strand.
»Wer … wer sind Sie?«, fragte sie.
Er antwortete nicht.
Plötzlich hörte das Kältegefühl in ihrem Nacken auf. Dort war nichts mehr. Plötzlich fühlte sie sich nackt, als hätte ihr jemand die Kleidung vom Körper gerissen. Sie begann zu frieren. »Wer sind Sie?«
»Das spielt keine Rolle.«
Die Stimme klang jetzt weiter entfernt, als wäre er in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers gegangen. Was machte er dort? Jetzt werde ich verrückt. Jetzt verliere ich den Verstand. Hoffentlich ist es so, und hoffentlich geht es schnell. Dann werde ich gar nichts mehr spüren.
»Warum machen Sie das?«, hörte sie sich selber fragen, stark und klar, als hätte sie Stimme und Kraft und alles andere wiedergefunden. Jetzt bin ich verrückt geworden. Mir ist alles egal.
»Mache was?«
»Warum haben Sie die Frauen umgebracht?«
Sie bekam keine Antwort. Hatte sie ihn provoziert? Hatte er die Frage erwartet? Jetzt stellte sie die Fragen. Würde es ihr gelingen, ihn in eine andere Ecke zu manipulieren als in die, in der er gerade stand? Die Oberhand gewinnen. Wie arbeitete sein verdrehtes Gehirn? Wenn sie dahin vordringen könnte …
»Warum sind Sie hierhergekommen?« Schon wieder stellte er die Frage.
»Ich wollte es wissen«, sagte sie.
»Jetzt wissen Sie es.«
»Nein!«
»Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.«
»Ich will es aber!«
»Mehr gibt es nicht zu wissen.« Er hatte die andere Ecke verlassen. Sie hörte seine Schritte. Der Fußboden war aus Holz, Parkett. Sie erinnerte sich daran. Sie hatte es gesehen, bevor sie einschlief, Holz, gelb wie die Sonne.
30
E s war ein in einzelne Bilder aufgeteilter Film, Bilder, die sich nicht bewegten, jedenfalls im Augenblick nicht. Ein Stillfilm. Ein stilles Leben. Er studierte Bild um Bild, als würde er sich durch ein fremdes Zimmer bewegen, in dem er sich mit jedem Schritt
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