Der letzte Winter
verbunden. Die Augenbinde drückte gegen den Kopf, die Augäpfel, die Schläfen und ließ kein Licht durch. Wenn es hell wäre, müsste doch wenigstens etwas Licht eindringen. Also war es dunkel um sie herum. Plötzlich erinnerte sie sich, wo sie war, und im selben Moment überfiel sie furchtbare Angst. Ich weiß, dass ich sterben werde. Bald werde ich sterben.
»Haben Sie keine Angst.«
Die Stimme kam von irgendwo hinter ihr. Wenn es eine Stimme war. Sie hatte die Wörter gehört, hatte sie verstanden und sie trotzdem nicht verstanden. Sie hatte nichts gehört. Sie wollte nichts mehr hören.
»Haben Sie keine Angst.«
Nein, nein, nein, nein, nein! Ich will nichts hören! Das alles geschieht nicht mir. Das kann gar nicht mir passieren! Ich werde Silvester bei Johnny Eilig feiern. Wie spät ist es? Hat das Fest schon angefangen? Oder haben wir bereits ein neues Jahr? 2009 . Es wird doch 2009 ? Vielleicht hat Johnny inzwischen bei mir angerufen. Ich habe doch gesagt, dass ich komme? Ja. Ich komme, klar habe ich das gesagt. Wenn ich nicht komme, ist mir etwas zugestoßen. Das habe ich doch auch gesagt? Wenn ich nicht innerhalb von dreißig Minuten bei dir bin, schlag Alarm. Viele Menschen haben mich auf dem Weg in die Stadt gesehen. Alle wissen, wo ich bin. Ihr braucht nur herzukommen und mich abzuholen. Ihr braucht nur …
»Warum sind Sie hierhergekommen?«
Nein, nein, nein, nein! Ich will nichts hören! Ich bin taub! Hörst du nicht? Ich bin taub!
Sie wollte nicht antworten, nicht reden. Wenn sie etwas sagte, würde er wissen, dass sie noch lebte. Wenn sie stumm blieb, würde er vielleicht glauben, dass er sie mit dem Betäubungsmittel umgebracht hatte. Was war passiert? Sie hatte die Tür zufallen hören, aber schon während sie sich umdrehte, war er hinter ihr gewesen, ganz nah. Sie hatte etwas vor ihrem Mund gespürt. Oder der Nase. Sie hatte etwas gerochen und war in ein Loch gefallen. Er hatte sie aufgefangen. Während es geschah, war sie erstaunt gewesen, wie schnell es ging. Sehr erstaunt. Innerhalb einer Sekunde. Er wusste wirklich, was er tat, als hätte er es schon tausend Mal getan. Zweitausend Mal. Zweitausendneun Mal. Sie war die Zweitausendneunte.
Sie versuchte, eine Hand zu bewegen, ein Bein. Es gelang ihr nicht, sie würde sich nie wieder bewegen können. Sie war gelähmt oder gefesselt. Gefesselt. Die Finger konnte sie ein wenig bewegen, vielleicht auch die Zehen. Vermutlich hatte sie keine Schuhe an den Füßen, aber sicher war sie nicht. Noch immer war es um sie herum schwarz. Sie lag auf etwas Weichem.
»Ich weiß, dass Sie wach sind.«
Es war eine Stimme, die sie noch nie gehört hatte. Vielleicht wusste sie, wie er aussah. Wenn er es war. Sie sah den Mann vor ihrem inneren Auge: Er hatte das Haus verlassen, war in die Stadt gegangen, wieder zurückgekehrt. Sie hatte ihn gesehen. Johnny hatte ihn gesehen. Johnny musste sich an ihn erinnern. Johnny musste es begreifen, zwei und zwei zusammenzählen, selbst wenn er ein Idiot war. Aber so durfte sie nicht denken. Hatten sie ihn Heiligabend gesehen? Sie konnte sich nicht mehr an den Tag erinnern, sie hatten einen Obdachlosen im Auto gehabt, den Hockeyspie…
»Sie sind wach«, unterbrach er ihre Gedanken. »Mich können Sie nicht täuschen. Ich kann das hier.«
Kann das hier. Kann was? Was kann er? Ich werde nicht fragen. Ich werde nichts sagen.
»Was wollten Sie hier?«
Soll ich schreien? Nein. Das wird mir nicht helfen, und er weiß das. In der Nachbarwohnung ist niemand. Das weiß die ganze Welt. Und in der Wohnung über ihm wohnt eine taube Frau. Stimmt das? Oder war das in dem anderen Haus?
»Sie sind schon unterwegs!«, hörte sie ihre eigene Stimme. Sie schien aus einer entfernten Ecke des Zimmers zu kommen. War ich das? So laut, als würde ich schreien.
Es blieb still. Sie hörte jemanden atmen, ein Einatmen. Vielleicht ein Seufzer. Dann Geräusche, als bewegte sich jemand hinter ihr. Sie schloss die Augen. Schloss sie hinter der Augenbinde, als könnte sie das schützen.
»Wer ist unterwegs?«
Jetzt war die Stimme näher. Sie nahm einen Geruch wahr, den sie nicht kannte. Was war das? Wollte er sie wieder betäuben? Nein. Es war etwas anderes. Herr Jesus, lieber, lieber Gott, was ist das? Was hat er vor? Wo ist er? Was ist das fü…
Sie spürte etwas Kaltes im Nacken. Eine Hand, nein, was war das? Es bewegte sich, verschwand, kam wieder.
»Wer ist unterwegs?«
Es war eine sanfte Stimme, eine warme Stimme, jedenfalls
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