Der letzte Winter
wusste ich im Voraus. Ich habe mit Stefan getauscht. Er würde einen Kater haben, das wusste er im Voraus. Deswegen haben wir getauscht.
Erneut ging eine Tür. Das Geräusch hallte wider wie aus einer Meile Entfernung, es musste eine große Wohnung sein, die nicht viele Möbel enthielt. Bei seinem Überfall in der Diele hatte sie gerade noch wahrgenommen, dass es eine sehr ordentliche Diele war. Er mochte keine Unordnung. Er brauchte gerade Linien. Warum hatte er in den anderen beiden Wohnungen nicht gründlich aufgeräumt? Alles ordentlich gerichtet? Hatte nur da und dort ein wenig zurechtgerückt. Reichte ihm das? Oder wurde er gestört? Ich werde ihn fragen. Warum er mich noch nicht umgebracht hat. Wurde er auch dabei gestört? Braucht er mich für einen bestimmten Zweck? Will er mich zu etwas benutzen? Eine Botschaft übermitteln?
Wieder hörte sie eine Tür, jetzt etwas näher. Da draußen gab es eine weitere Tür. Er ging in der Wohnung umher und schlug mit den Türen. Cool. Das beruhigt mich. Mein Mörder geht umher, öffnet Türen und schlägt sie wieder zu. Er denkt nach. Er plant. Er ist unruhig. Das muss ich ausnutzen. Mit ihm reden, mit ihm reden, re…
Hinter ihr wurde die Tür geöffnet, die letzte. Sie hatte bis zu der dritten gezählt. Die Tür wurde geschlossen. Schritte waren nicht zu hören. Er war stehen geblieben. Sie konnte nichts sehen, nur die nackte Wand vor sich. Sie konnte nicht sprechen, weil er ihr einen Knebel angelegt hatte, eine Art Gazebinde.
»Sind Sie wach?«
Sie antwortete nicht. Vielleicht sollte sie sich tot stellen, solange es ging, bewusstlos.
»Ich weiß, dass Sie wach sind.«
Warum fragte er dann? Er brauchte nicht zu fragen. Er brauchte nichts zu sagen. Er konnte gehen. Geh! Unsinn, ich will doch mit ihm reden. Es ist wichtig, mit ihm zu reden. Aber wie denn das? Ich habe diese verdammte Binde vorm Mund.
Und da sah sie den Schatten an der Wand. Sie spürte etwas im Nacken und wusste, dass sie sterben würde. Er berührte ihren Hinterkopf. Sie schloss die Augen, schloss sie, ihre Augen drangen in den Kopf ein, schloss sie.
Er nahm ihr den Knebel ab.
Sie hatte Gipsgeschmack im Mund und versuchte zu schlucken, dachte an Mumien. Ich bin schon im Grab, jetzt ist es Zeit für die Einbalsamierung. Ich hätte diesen Film nie ausleihen sollen.
»Jetzt können Sie reden«, sagte er hinter ihrem Rücken. »Jetzt sind Sie wach.«
»Ich bin wach«, sagte sie zur Wand. Die Wand strahlte Freundlichkeit aus, Geduld. Wenn sie ihn anschauen müsste, würde sie kein Wort herausbringen.
»Vielleicht liegen Sie etwas unbequem. Ich entschuldige mich dafür.«
»Was haben wir heute für einen Tag?«, fragte sie.
Er antwortete nicht. Sie hatte den Eindruck, dass er überlegte, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte.
»Was haben wir für ein Jahr?«, fragte sie.
»Dasselbe alte Jahr«, sagte er.
»Ist heute Silvester?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Dann ist ein Tag vergangen«, sagte sie. »Das spielt eine Rolle.«
»Warum?«
»Sie vermissen mich. Sie werden bald hier sein.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wo sollten sie mich sonst suchen?«
»Überall, nur nicht hier.« Er schien zu lachen. Es klang wie ein Schnauben. »Hierher kommt niemand.« Eine kleine Pause. »Hierher kommt niemals jemand.«
»Sind Sie allein?«
»Nicht mehr.« Wieder das Schnauben. Oder das Lachen.
»Was werden Sie tun, wenn ich nicht mehr hier bin?«
Er antwortete nicht.
»Ich werde nicht immer hier bleiben.«
Es war gefährlich, das zu sagen. Provozierend. Vielleicht auf falsche Art provozierend. Aber noch lebte sie. Er war verunsichert. Es bestand die Möglichkeit, ihn in zwei verschiedene Richtungen zu provozieren.
»Ich finde jemand anderen«, sagte er.
»Nein. Sie finden keinen. So einfach ist das nicht. Ich bin die Einzige, die Sie haben.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich kann Ihnen helfen.«
»Haben Sie sich selbst gesehen?«
»Wie bitte?«
»Sie können nicht sehen, wie Sie daliegen. Das sollten Sie. Dann wäre Ihnen klar, dass Sie niemandem helfen können.«
»Warum haben Sie die Mädchen umgebracht?«
»Die Mädchen?«
»Die Frauen. Die beiden Frauen. Warum haben Sie sie umgebracht?«
»Wer sagt denn, dass ich es war?«
»Keiner. Keiner sagt, dass Sie es waren. Aber es gibt niemanden sonst. Wir können darüber reden. Sie können darüber reden.«
»Es gibt nichts zu reden. Absolut nichts.«
»Warum haben Sie hinterher aufgeräumt? Warum?«
»Ich habe nicht
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