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Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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laufen?«
    »Nein.«
    Winter lauschte.
    »Liegt eine Minute dazwischen?«
    »Das kannst du genau haben. Es …«
    »Ich habe es erkannt«, unterbrach ihn Winter.
    Er war erstaunt von der Ruhe in seiner eigenen Stimme, denn er war alles andere als ruhig. Seine Haare richteten sich auf, ein ganz reales Gefühl.
    »Ich kenne es!«, rief er. Jetzt war die Ruhe aus seiner Stimme verschwunden. »Noch mal.« Er lauschte. »Lauter!«
    Yngvesson stellte den Ton lauter.
    »Lauter! Noch lauter!«
    Es dröhnte. Es waren wahnsinnige Geräusche. Winter dachte an Coltrane, den späten Coltrane. Den Coltrane des Abgrundes.
    Und da kam sie, plötzlich klar wie Wasser, befreit von Schlamm und Matsch. Die Melodie, die jeder kannte. Die Melodie, die die ganze Welt gehört hatte.

31
    E s klang wie aus mehreren Kilometern Entfernung, aber dieses Musiksignal war es.
    Jetzt gibt es Eis.
    Eis an der Haustür! Von Hem-Eis, dem mobilen Eiswagen.
    »Ja, Mensch, wirklich«, sagte Yngvesson.
    Winter sah den himmelblauen Lieferwagen vor seinem inneren Auge, die Kinder schon im Dauerlauf auf dem Weg zu ihm. Oder war das zu seiner Zeit gewesen? Hatte es Hem-Eis auch in seiner Kindheit gegeben? Oder etwas Ähnliches? Bestimmt hatte es das Eisauto schon gegeben, aber plötzlich konnte er sich nicht mehr erinnern.
    »Es ist draußen vorbeigefahren«, sagte er.
    »Ich arbeite noch ein bisschen an der Kompression«, sagte Yngvesson und beugte sich über die Tastatur.
    Dann lauschten sie wieder. Es war die Melodie. War sie von Dick und Doof geklaut? Laurel und Hardy waren heute fast vergessen. Selbst Winter war eine Generation zu spät geboren worden für Dick und Doof. Aber die Erkennungsmelodie gab es noch. Ein Warenzeichen, das heutzutage eine andere Art von Freude verbreitete.
    »Sie ist es, definitiv«, sagte Yngvesson.
    Winter nickte. Sie hatten etwas. Es war nicht viel, aber es war etwas , mehr als der pathetische kleine Pokal im Film von dem dritten Zimmer. Mehr als die Bilder an den Wänden, die Einrichtung, die Bücher, deren Titel man nicht entziffern konnte, all das, was sie versucht hatten zu bearbeiten, diese ganze undankbare Arbeit immer wieder von vorn. Bei den Bildern an den Wänden schien es sich um Drucke zu handeln, die es überall zu kaufen gab. Die wenigen sichtbaren Möbel waren Standard, teurer Standard, aber trotzdem. Das Bett war offenbar von Ikea. Das hatte Winter gewundert.
    »Das Problem ist nur, dass diese Eisautos durch die ganze Stadt kurven«, fuhr Yngvesson fort. »Sie scheinen überall zu sein, ständig. Es muss Hunderte davon geben.«
    »Verdirb mir nicht die Freude«, sagte Winter. »Endlich haben wir etwas gefunden.«
    »Yes, okay.«
    »Lass den Film laufen«, sagte Winter, »Bilder und Geräusche synchron.«
    Noch einmal. Winter stand vor dem größten Bildschirm. Er lauschte, schaute. Das Zischen, Brausen, Atmen. Das trübe Licht oder die Dunkelheit. Die weichen Schwenks der Kamera, der Kameramann musste eine sehr sichere Hand haben. Die Schlafenden. Wie konnten sie schlafen? War das Ganze nur eine Show, eigens für ihn in Szene gesetzt?
    Das Fenster, die Dämmerung davor, Morgen oder Abend. Tag? Nacht? Die genaue Zeit war nicht zu bestimmen. Wenn die Schlafenden kein Theater spielten, könnten sie zu jeder Zeit rund um die Uhr betäubt worden sein. Aber am Tag? Irgendwann würden sie aufwachen, und dann würden sie merken, dass etwas mit ihnen geschehen war. Nachts wäre das etwas anderes. Vielleicht war es Nacht. Später Abend. Womöglich handelte es sich tatsächlich um eine Inszenierung, auch die Geräusche könnten eigens für ihn erzeugt worden sein. Eine Montage. Eine Geräuschkulisse. Das Eisauto von Hem konnte ebenso gut auf dem Mond herumfahren.
    »Ist es möglich, festzustellen, ob die Geräusche manipuliert sind, Richard?«
    »Wie meinst du das?«
    »Schalt mal eine Weile ab.«
    Yngvesson schaltete mitten im Schwenk übers Fenster ab. Es ruckelte, als hätte jemand von draußen einen Stein dagegen geworfen.
    »Kann er die Geräusche im Nachhinein darübergelegt haben?«
    »Hm, daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich glaube es nicht, nein.«
    »Warum nicht?«
    »Das würde sich wohl zu sehr überschneiden. Die Diskants müssen gem …«
    »Ist gut«, unterbrach Winter ihn. »Wir kommen darauf zurück, falls nötig. Lass den Film wieder laufen.«
    Die Vorstellung ging weiter. Die Kamera glitt am Fenster vorbei.
    »Bitte zurück. Zeig das Fenster noch einmal«, sagte Winter.
    Das Bild erstarrte

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