Der letzte Winter
gehen.«
»Warten Sie!«
Sie hörte, wie eine Tür geschlossen wurde. Seine Schritte, die sich entfernten. Eine weitere Tür wurde geöffnet und geschlossen. Ein widerliches Echo. Es war, als würden die Türen zu ihrem Leben geschlossen, eine nach der anderen. Jetzt war niemand mehr da. Draußen dröhnte es nicht mehr. Das Echo war erstorben. Sie lag unbeweglich da und versuchte zu denken. Sie wollte nicht denken. Sie lauschte. Sie wollte nicht lauschen. Jetzt hörte sie ein Geräusch, es kam von hinten. Ein Signal. Plötzlich spiegelte sich vor ihr ein Licht an der Wand. Hinter ihr musste ein Fenster sein. Ein schwacher Lichtkegel glitt über die Wand, als würde jemand von draußen mit einer Taschenlampe hereinleuchten. Ja! Leuchte! Leuchte! Wieder hörte sie das Geräusch. Es war eine Melodie. Sie hatte sie schon tausend Mal gehört, natürlich, wie jeder in diesem Land. Von ihrer Wohnung aus hatte sie den blauen Kastenwagen viele Male in Sandarna halten sehen. Hatte gesehen, wie die Kinder angelaufen kamen. War einmal sogar selbst hingelaufen. Sie war froh gewesen, als wäre sie wieder ein Kind.
32
S ie wartete, dass etwas geschah. Nein. Eher sehnte sie sich danach, dass etwas geschah. Irgendetwas. Das war ein klassisches Gefühl. Jeder Gefangene musste warten, manche sehr lange. Dann waren sie bereit, alles Erdenkliche zu gestehen. Alles Erdenkliche zuzulassen.
Sie musste zur Toilette. Lange hielt sie es nicht mehr aus. Sie verstand nicht, dass der Drang nicht schon eher eingesetzt hatte. War es der Schock? Auf jeden Fall irgendeine Art Blockade. Aber die war jetzt aufgehoben. Nun musste sie dringend zur Toilette.
Langsam wurde ihr bewusst, dass sie nichts mehr vor dem Mund hatte. Sie konnte rufen. Während ihr das aufging, wurde ihr Körper immer kälter, als würde sie allmählich in Eis versenkt.
Sie lag jetzt in einer anderen Stellung.
Er war im Zimmer gewesen, hatte sie berührt. Anscheinend hatte sie geschlafen. Er hatte sie betäubt, genau wie die anderen. Jesus. Jesus! Wie war das passiert? Sie hatte es nicht gemerkt. Sie war nicht von allein eingeschlafen. Er war hier gewesen! Er war hier gewesen! War er unsichtbar? Tauchte plötzlich aus dem Nichts auf? War er der Teufel? Nein, sie glaubte nicht an den Teufel. Sie glaubte an Gott, aber nicht an den anderen.
Was tat er da draußen? Sie lauschte. Es war ganz still. Es war dunkel. Sie lag im Dunkeln. Das Fenster konnte sie nicht sehen. Es ließ etwas Licht herein, wenn man es Licht nennen konnte. An der Wand vor ihr zeichnete sich das Teilstück eines Rechtecks ab. Es war das Fenster. Sie lag immer noch auf der Seite, aber jetzt auf der anderen. Ihre linke Seite war gefühllos. Sie hatte keine Schmerzen. Es gab anderes, worüber sie nachdenken musste. Jetzt brannte es in ihren Gedärmen, sie musste auf der Stelle zur Toilette, sie wollte nicht hier liegen und …
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand? Hallo? Hallo?!«
Es blieb still.
»Hallo? Hallo?«
Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören, wie sollte sie dann aus dem Zimmer dringen? Hatte er etwas mit den Wänden angestellt? War es jetzt ein Bunker? Ein Grab? Nein, nein, weg, weg. Denk nicht! Ich war nicht eingeplant, bin plötzlich aufgetaucht. Jetzt zerbricht er sich den Kopf darüber, wie er mich loswerden kann. Ich gehöre nicht zu seinem Plan. Er ist ein Pedant, zum Teufel! Nichts darf seine Pläne durchkreuzen. Er würde einen Fehler begehen, wenn er etwas mit mir machte. Mich hat es nie gegeben. Nein, nein, das habe ich nicht gemeint. Jetzt gibt es mich, und er tut so, als wäre ich gar nicht da. Für ihn ist es das Einfachste, mich zu fesseln und liegen zu lassen. Dann, wenn alles vorbei ist, werden sie mich finden und alles ist okay. Mir ist nichts geschehen. Viel kann passiert sein, aber hier ist nichts passiert, nicht in diesem Zimmer, nicht mit mir! Er verfolgt andere Pläne. Auch daran will ich nicht denken. Wird es in dieser Wohnung geschehen? Will er hier jemanden umbringen? In einem der anderen Zimmer? Wo soll es geschehen? Hält er sich nur in diesem Viertel auf? Diesem Stadtteil? Warum? Ist das nicht riskant? Oder umgekehrt? Soll es in diesem Viertel geschehen? So, und jetzt muss ich auf der Stelle zur Toilette.
»Hallooo?!!«
Dann dachte sie, dass er es nicht war. Nicht er . Dieser Mann ist irgendein anderer Verrückter. Sie hatte doppeltes Pech gehabt. Oder extrem wenig Glück. In jedem Treppenaufgang wohnte mehr als ein Verrückter. Gab es eine Statistik darüber?
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