Der letzte Winter
diesem Zeitpunkt bekannt sein würde. Winter dachte an ihn wie an das Unbestimmte, das Elsa auf dem Wasser gesehen hatte, bevor das Gesicht auftauchte. Etwas, das es nur draußen im Meer gab, etwas Natürliches. Das zum Meer gehörte. Es sollte nichts mit ihnen zu tun haben. Sie hatten eine Pressemitteilung herausgegeben, die einige Tage kursierte: Geschlecht, Herkunft, ungefährer Fundort (sehr vage), Alter. Das Verbrechen wurde nicht erwähnt. Aber nichts, keine substantiellen Reaktionen. Es war frustrierend und ungewöhnlich.
Nach dem Ereignis waren Winter und seine Familie nicht mehr zu ihrem Strand gefahren. Es war noch nicht viele Tage her, und doch kam es ihm so vor, als sei es eine andere Zeit gewesen. Das Wetter war noch immer schön. Und sie würden zu ihrem Heim zurückkehren. Trotz allem war der Strand eine Art Heim, auch wenn kein Haus darauf stand. Elsa würde aufhören, warum zu fragen. Sie würden wieder Steine über das Wasser hüpfen lassen, würden die Geschichte ins Meer zurückwerfen. Nie wieder würde etwas Unheimliches aus dem Meer bei ihnen angetrieben werden. Das hatte er ihr versprochen.
Warum das Meer? Von wo? Warum war er vom Meer gekommen? Wo war er ins Meer geworfen worden? Es gab noch keine eventuellen Zeugen. Der Verkehr der vergangenen Tage in den Fjorden war unmöglich zu kontrollieren. Wer etwas zu verbergen hatte, hielt das Maul. Da draußen wimmelte es von Schmugglern. Wenn Winter nachts an seinem Strand stand, hörte er die Schmugglermotoren. Die liefen mit besserem Treibstoff, mit einem reineren Geräusch.
Die Identität des Toten aus dem Meer war nach wie vor unbekannt. Die Verbrecherkartei hatte auch nicht weitergeholfen. Die Polizei hatte sich an die Bevölkerung gewandt. Vielleicht war jemand vorbeigesegelt, der etwas Auffälliges gesehen hatte. Winter machte sich keine große Hoffnung. Die größte Hoffnung setzten sie auf eine Vermisstenmeldung. Wenn der Mann eine annähernd soziale Person gewesen war, würde sein früheres Leben ihnen am Ende doch noch einen Namen liefern. Bisher gab es jedoch keine Anzeige. Noch immer war der Mann namenlos. Vielleicht würde er bald nicht mehr umhinkönnen, ihm einen Namen zu geben. So etwas hatte er schon einmal getan. Er hatte die tote Frau Helene genannt. Sie war auch erdrosselt worden. Lange war sie namenlos gewesen. Es war eine unerhörte Ermittlung gewesen, die nicht weit entfernt von seinem eigenen Strand ein Ende gefunden hatte. Damals hatte er noch keine Familie gehabt. Es war ein Sommer vor elf, zwölf Jahren gewesen. Ein kleines Mädchen war ihm am Strand entgegengekommen. Das war das Letzte, was geschehen war. Es war ein unerhörter Moment gewesen. Dieses Mädchen hatte er gesucht, und er hatte große Angst gehabt. Es hatte ihn gefragt, wer er wäre. Wer er war!
Er hatte das Salz in seinen Augen gespürt, das nicht nur vom Meer und dem Wind herrührte.
Johnny Eilig meldete sich nach dem dritten Klingelton. Seine Stimme klang nicht so, als würde er es im Moment eilig haben. Sie klang genauso verschlafen, wie Gerda Hoffner es vor einigen Stunden gewesen war.
»Habe ich dich geweckt, Johnny?«
»Nein. Ich bin auf. Mist, draußen ist es ja schon wieder Nacht.«
Sie schaute aus dem Fenster. Er hatte recht. Die Nacht war wieder da. Sie kam immer gleich schnell, hatte es immer gleich eilig. Kam immer gleich überraschend.
»Hast du heute Nacht Dienst?«
»Gott sei Dank, nein.«
»Bist du religiös, Johnny?«
»Nein, aber ich bin in einem freikirchlichen Ort aufgewachsen. In Småland. Da sind übrigens alle Einwohner freikirchlich. Oder religiös.«
»Worin besteht denn der Unterschied?«
»Tja … einige halten sich für heiliger als die anderen.«
»Wer sind die Heiligsten?«
»Die Freikirchler, soweit ich es mitbekommen habe. Die waren immer etwas feiner als andere, der Meinung schienen sie jedenfalls selber zu sein.«
»Aber du warst nicht religiös.«
»Nein. Mein Alter war Möbeltischler bei der Hausfabrik, die einem Christdemokraten gehörte.«
»Aha.«
»Das hinterlässt seine Spuren.«
»Was für Spuren?«
»Bei denen aufzuwachsen.«
»Aber du bist ihnen entronnen, Johnny.«
»Jesssuuuusss sei Dank.«
Johnny sprach den Namen des Heiland mit langem pfeifenden »s« aus, das durch die Dezemberdämmerung in der Leitung zischte. Seine Stimme klang fast wie die eines Predigers der Freikirche bei einem Zelttreffen. Jesssuuussss. Danke, Jesssuuusss, für alles Gute, das du den Menschen tust.
»Hast du
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