Der letzte Winter
die Weinflasche gesehen?«, fragte Gerda Hoffner.
»Welche Weinflasche?«
»Deswegen rufe ich an. Ich habe an die beiden Wohnungen gedacht, in denen die Frauen umgebracht worden sind. Ich war ja auch in der zweiten Wohnung. Und da gab es … Ähnlichkeiten.«
»Wie meinst du das? Was für Ähnlichkeiten?«
»In beiden Küchen stand eine Flasche Wein mit einem einzigen Glas daneben. Und mit den Büchern in beiden Schlafzimmern war etwas seltsam. Und mit den Bildern an der Wand.«
»Ich hab auf keine Weinflasche geachtet«, sagte Johnny. »Und auch auf kein Bild.«
»Und die Bücher?«
Er schwieg.
»Johnny?«
»Ja, ich bin hier. Die Bücher … doch, ich erinnere mich an ordentlich gestapelte Bücher.«
»Genau! Auffallend ordentliche Stapel. Rechtwinklig oder wie man das nennen soll. Im Übrigen war das Zimmer oder die Wohnung ja nicht besonders aufgeräumt, nur die Bücher waren penibel gestapelt. In der anderen Wohnung war es genauso. Und jemand hat die Bilder an der Wand gerichtet, die schief gehangen haben. In beiden Wohnungen.«
Johnny schwieg. Sie hörte sein Schweigen. Dachte er, dass sie übergeschnappt war?
»Johnny?«
»Ja … was soll ich dazu sagen, Gerda?«
»Ich weiß es nicht. Sag, dass es interessant ist.«
»Was ist interessant?«
»Dass … ich weiß es auch nicht. Dass da irgendetwas faul ist. Es gibt Dinge, die in beiden Fällen übereinstimmen, und deswegen stimmt etwas nicht.«
»Aha?«
»Ich mache keine Witze.«
»Wer war am anderen Tatort dabei?«
»Alexander Hedberg.«
»Hast du schon mit ihm geredet?«
»Nein, noch nicht.«
»Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann, Gerda. Mir ist keine Weinflasche und kein Bild aufgefallen. Die Bücher habe ich gesehen, aber verdächtig sind sie mir nicht vorgekommen.«
»Was soll ich tun, Johnny?«
»Sprich mit Alexander. Und wenn er dir nicht helfen kann, musst du wohl mit der Kripo reden.«
»Fahndungsdezernat?«
»Ja, die sind zuständig. Mit denen musst du sprechen.«
»Ich komme mir so blöd vor.«
»Du musst selbst entscheiden, ob es blöd ist, Gerda.«
»Und wenn die Männer nun doch unschuldig sind?«
»Aus welchem Grund glaubst du das?«
»Ich weiß es nicht. Was ich gesagt habe. Dass es … an beiden Tatorten gleich aussah. Wenn es überhaupt stimmt. Während ich mit dir rede, werde ich unsicher.«
Er schwieg.
»Ich weiß, was du denkst, Johnny. Du denkst, es spielt keine Rolle, was ich gesehen habe. Falls ich was gesehen habe. Dass sie so oder so schuldig sind.«
»Wenn sie schuldig sind, werden sie wohl gestehen.«
»Und wenn sie nicht gestehen?«
»Schuldig können sie trotzdem sein.«
»Oder unschuldig.«
»Sprich mit Alexander.«
»Das werde ich tun, Johnny. Tschüs.«
Er legte auf. Wieder glitten die Lichter einer Straßenbahn durch ihre Wohnung wie die Lichtkegel einer Taschenlampe. Sie blieb in der Dunkelheit stehen. Plötzlich hatte sie Angst. Angst vor sich selber. Und vor etwas anderem. Irgendetwas schien ihr sagen zu wollen, sie sollte aufhören, daran zu denken. Als würde die Dunkelheit da draußen sie rufen. Sie sollte nicht mehr darüber nachgrübeln, was sie gesehen oder nicht gesehen hatte. Das war für niemanden gut. Nicht gut für sie. Nicht gut für die toten Frauen. Lass die Ermordeten in Frieden ruhen. Sie werden nie Frieden finden, ganz gleich, was ich tue. Sie hob erneut den Hörer ab. Die Lichter einer weiteren Straßenbahn sorgten dafür, dass sie die Zahlen ohne Probleme lesen konnte. Aber sie rief nicht an.
Die Kriminalinspektoren Susanna Jax und Patrik Lennartsson vom Fahndungsdezernat führten eine Befragung an den Türen in dem Haus in der Chalmersgatan durch. Die Tür im vierten Stock wurde geöffnet. Es war die Wohnung über Martin Barkners und Madeleine Holsts Wohnung.
Die ältere Frau blinzelte sie mit kurzsichtigen Augen an.
Susanna Jax erklärte ihr Anliegen.
Ob sie etwas von unten gehört habe? Nichts. Aber sie hörte auch nicht mehr so gut. Ob sie etwas gesehen habe? Was hätte sie sehen sollen?
Ja, was? Susanna Jax dachte darüber nach, während sie die Treppen hinuntergingen. Sah jemals ein Bewohner dieses Hauses einen anderen? Hier konnte man sich sein Leben lang verstecken. Für den, der unsichtbar bleiben wollte, war das Haus wie eine Festung. Wer wirklich Anonymität suchte, sollte eine Wohnung mitten in der Stadt wählen. Niemand wusste, wer man war oder woher man kam. Oder was man getan hatte.
Im nächsten Stockwerk gab es drei Wohnungstüren.
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