Der letzte Winter
Gewürzen.
»Wir wollten gerade heißen Punsch trinken«, sagte Lotta.
»Sind die Mädchen zu Hause?«
»Sie wohnen nicht mehr hier, Erik.«
»Ach ja, klar.«
Sie sah ihn an. Vielleicht lächelte sie.
»Das war nur so dahingesagt. Kristina wohnt noch zu Hause.«
»Ach so, klar.«
»Und deine Familie? Wohnt die noch zu Hause?«
»Hast du nicht gestern mit Angela telefoniert?«
»Ach ja.«
»Was ist das für ein Punsch?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Mama hat ihn gekauft.«
»Wo ist sie?«
»Irgendwo im Haus.«
Sie hörten eine Stimme hinter sich. »Näher, als ihr glaubt.«
Winter drehte sich um. »Hallo, Mama.«
»Was für eine schöne Überraschung, Erik.«
Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn. Sie fühlte sich magerer an als beim letzten Mal, als nähmen die Knochen mehr Platz in ihrem Körper ein, der geschrumpft war. Sie ging auf die achtzig zu und hatte wirklich auffallend abgenommen, was aber nicht vom Rauchen kam. Es konnte alles Mögliche sein. Es ist nichts, sagte sie.
Siv Winter hatte beschlossen heimzukehren, nach all den Jahren, die sie an der spanischen Sonnenküste gelebt hatte. Ihr Haus in Nueva Andalucia war den Winter über vermietet. Sie sagte, im Frühling wollte sie zurückfahren. Ihr Sohn glaubte nicht daran. Vielleicht würde er selber im Frühsommer mit der Familie ein paar Wochen dort verbringen. Vielleicht konnten sie alle zusammen reisen. Das Haus dort unten war größer, als es von außen wirkte. Jetzt wohnte Siv Winter bei Lotta. Sie sagte, sie suche eine eigene Wohnung. Auch das glaubte er nicht. Und Lotta hatte Platz genug. Siv war nach Hause gekommen, konnte man sagen. Sie und Bengt hatten das Haus gekauft, als die Kinder noch klein gewesen waren. Sie war wieder zu Hause.
»Ich war zufällig in der Nähe«, sagte Winter.
»Die Arbeit?«
»Ja.«
»Sei vorsichtig, Erik.«
Sie sah wirklich ängstlich aus. Dafür hatte er Verständnis. Er bekam selber Angst, wenn er an seine Begegnung mit dem Tod auf Brännö dachte. Es war ein Gefühl, als wäre es gestern gewesen. Oder vor dreitausend Jahren.
»Ich bin vorsichtig.«
»Was ist?«, fragte Lotta. »Ist etwas passiert in Långedrag?«
»Nein, nein. Anfang des Monats ist ein Mann verschwunden, vielleicht von Önnered. Ist im Wasser gelandet.«
»Weißt du, wo?«
»Nein, vielleicht irgendwo beim Anleger von Önnered.«
»Was ist ihm passiert?«
»Wir wissen nur, dass er tot ist.«
»Aber ist er … umgebracht worden?«, fragte Siv Winter.
»Das wissen wir auch nicht genau.«
»Warum beschäftigst du dich dann mit der Sache?«, fragte Lotta Winter.
»Er ist bei unserem Grundstück an Land getrieben worden«, antwortete Winter.
»Wie bitte?!« Siv Winter sah ihren Sohn an, dann ihre Tochter. »Wie meinst du das, Erik?«
»Wir waren gerade draußen, Angela, die Kinder und ich, als er ans Ufer getrieben wurde. Genau auf unser Grundstück zu. Es ist wahr. Aber es ist natürlich noch geheim. Ich habe es noch keinmal erzählt.«
»Was ist geheim?«
»Dass er bei uns angetrieben wurde.«
»Was für ein Zufall«, sagte Siv Winter. »Du lieber Gott. Was für ein furchtbarer Zufall.«
Winter schwieg.
»Es war doch wohl ein Zufall, Erik?«
»Natürlich«, sagte er.
»Was … wie haben es die Mädchen verkraftet?«
»Sie haben nichts gesehen«, antwortete er.
Der Morgen kam mit Schnee. Schnee in Göteborg war immer eine Sensation. Die Kinder hatten es eilig, nach draußen zu kommen. Die Erwachsenen, die das Kind in sich bewahrt hatten, freuten sich auch. Gerda Hoffner stand an ihrem Schlafzimmerfenster und verfolgte den langsamen Weg der Straßenbahnen den Hügel herauf. Noch ein Zentimeter Schnee mehr, und der gesamte Schienenverkehr würde zum Erliegen kommen. Insofern war Schnee auch immer eine Sensation in der Stadt. Schnee? Hier? Hier, in einer der acht arktischen Nationen der Welt? Nie. Straßenbahnen gab es ja erst seit hundert Jahren, man musste also Verständnis dafür haben, dass es den Behörden noch nicht gelungen war, den Verkehr an einen eventuellen Winter anzupassen. Die Welt dort draußen war weiß. Gerda Hoffner schloss die Augen. Sie sah die weißen Laken, die die toten Frauen umhüllten. Den weißen Tod, die weiße Farbe. Mild und trügerisch. Entsetzlich. Sie öffnete die Augen. Die Sonne streute Lichtspritzer auf das Weiß. Göteborg ist eine entsetzliche Stadt. Ich bin ein Teil von ihr, dachte sie und ging weg vom Fenster. Ich war dabei. Ich war die Einzige. Nur ich habe alles gesehen.
Weitere Kostenlose Bücher