Der letzte Winter
war reiner Zufall. Vielleicht war er farbenblind. Oder sein Mörder. Jedenfalls war er auf keiner Beerdigung, soweit wir wissen.«
»Apropos Angst, Erik. Warum ist das ausgerechnet bei uns passiert? Und als wir gerade dort waren? Ich weiß, dass du darauf keine Antwort hast, aber das macht mir Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Angela. Das hat nichts mit uns zu tun. Nichts hat etwas mit uns zu tun.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass immer mehr mit uns zu tun hat«, sagte sie.
Der Tag des Heiligen Abend begann mit einem unruhigen Morgen. Die Sonne machte die Sache nicht besser, sie warf sich förmlich auf Sandarna. Gerda Hoffner konnte nicht länger schlafen, trotz der geschlossenen Jalousienlamellen drang die Sonne herein. Der Fußboden sah erschreckend dreckig aus in dem unbarmherzigen Licht, Staub flirrte in der Luft. Wer hier lebte, brauchte eine Schutzmaske. An einem bedeckten Tag fiel das nicht auf. In diesem Winter gab es keinen verhangenen Himmel. Trübe Tage waren nur noch ein Traum. Sie sehnte sich nach Wolken, die Sonne hatte sie rastlos gemacht, und Rastlosigkeit war eine andere Bezeichnung für Einsamkeit. An diesem Morgen hatte sie kaum Ruhe, in ihrer einsamen Küche Wasser in den Wasserkocher laufen zu lassen, Kaffeepulver in die Tasse zu geben, die Milch, das kochende Wasser dazuzugießen. Nicht einmal dafür Ruhe. Sie schaltete das Radio mitten in einem populären Kinderlied ein. Es handelte von einem Fuchs, der über das Eis rennt, eine Erinnerung an ihre schwedische Kindheit, Füchse, die über Eis rennen. Sie hatte noch nie einen Fuchs in Göteborg gesehen. Durch das Fenster sah sie einige Kinder den Hügel hinaufzappeln. Ein Mann mit roter Zipfelmütze folgte ihnen in wenigen Schritten Abstand. Die Kinder konnten sich kaum halten vor Entzücken. Sie hörte den Tanz im Radio, da tanzten wirklich Leute mit dumpf stampfenden Schritten. Tanz im Radio war das Beste. Sie schaute auf ihre nackten Füße und schaltete das Radio aus. Sie wünschte, der Morgen würde sich schneller bewegen als die Sonne und dass die Sonne am frühen Nachmittag unterging. Es würde wieder eine glühende Dämmerung kommen, entsetzlich schön. Dann würde sie vielleicht weit im Osten sein und dem Glühen den Rücken kehren. Auf dem Weg zur ersten Weihnachtsfeier, die aus dem Ruder gelaufen war. Jemand hatte den Weihnachtsmann angesteckt.
Draußen biss die Luft in ihre Nase. Es herrschten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Gerda Hoffner setzte zum Schutz gegen das grelle Licht ihre Sonnenbrille auf. Sie ging zum Mariaplan und stellte sich in der Schlange vor dem Bankautomaten an. Vor ihr warteten geduldig ein paar Außenseiter der Gesellschaft. Eine Frau drehte sich um. Gerda Hoffner kannte sie. Auch den Mann kannte sie. Heute waren sie kinderlos. Ihre Tochter feierte Weihnachten an einem anderen Ort. Mama und Papa bekamen ihr Geld. Gott weiß, woher. Gerda Hoffner sah, wie sie den staatlichen Schnapsladen im Norden ansteuerten.
Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf die Uhr. Viertel nach elf. Das Display zeigte eine Auslandsnummer.
»Hej, Mutti .«
»Gerda! Fröhliche Weihnachten!«
»Das wünsche ich dir auch.«
»Wie geht es dir?«
»Es ist wie üblich schönes Wetter. Ich mache gerade einen Spaziergang. Heute Abend habe ich Dienst.«
»Kommst du uns nach Silvester besuchen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Du hast es versprochen, Gerda. Und Vati würde sich so freuen.«
»Wirklich?«
»Das weißt du doch. Warum fragst du? Das brauchst du doch nicht zu fragen.«
Gerda Hoffner ging die Slottskogsgatan in Richtung Jaegerdorffsplatsen entlang, während sie dem sächsischen Dialekt ihrer Mutter lauschte. Viele Jahre lang hatte sie nicht gewusst, dass die Sprache, die man in Leipzig sprach, in Deutschland als extrem bäuerischer Dialekt galt, aber als sie zum ersten Mal Vergleichsmöglichkeiten hatte, verstand sie, warum. Der Dialekt wirkte zurückgeblieben und klang schlimmer als das ärgste Småländisch. Ihre Mutter sprach »Weihnachten« auf eine Art aus, als würde sie es vom Blatt ablesen und als hätte sie gerade erst lesen gelernt. Aber das spielte in Leipzig ja keine Rolle. Oder in Göteborg.
»Ich versuche zu kommen«, sagte Gerda Hoffner.
»Es gibt jetzt Direktflüge von Göteborg nach Berlin«, sagte ihre Mutter. »Wusstest du das? Und von dort kannst du den Zug nehmen.«
»Ich weiß.«
Gerda hörte eine Stimme im Hintergrund.
»Vati lässt dich grüßen«, sagte die
Weitere Kostenlose Bücher