Der letzte Winter
Mutter.
»Grüß ihn wieder.«
»Er ist auf dem Weg nach draußen.«
»Aha.«
»Heute Abend gehen wir zu Onkel Andreas.«
»Grüß ihn auch von mir.«
Eine Pause. Gerda Hoffner hörte, wie eine Tür in dem grauen Reihenhaus, das nicht weit entfernt vom Messegelände lag, geöffnet und geschlossen wurde. Auf der Straße fuhr eine Straßenbahn vorbei. Es war wie zu Hause, gleich, ob man in Leipzig oder Göteborg lebte. Alle Reihenhäuser in Leipzig waren grau. Vielleicht war es ein historisches Andenken.
»Bei uns scheint auch die Sonne«, sagte ihre Mutter. »Aber wir haben keinen Schnee.«
»Nein. In diesem Jahr gibt es nirgendwo Schnee.«
»Wahrscheinlich gut so.«
»Ja.«
»Dann ist das Autofahren auch nicht so gefährlich. Und die Arbeit ist wahrscheinlich auch nicht so schwer?«
»Ja.«
»Mir gefällt es nicht, dass du heute Abend Dienst hast.«
»Warum nicht?«
»Es … niemand sollte heute arbeiten müssen. Es ist doch Heiligabend.«
»Viele wollen, dass wir arbeiten. Viele sind froh, wenn wir kommen.«
»Wirklich?«
»Ja, so ist es. Man kommt sich fast wie der Weihnachtsmann vor.«
»Der Weihnachtsmann? Jetzt nimmst du mich auf den Arm, Gerda.«
»Ja.«
»Aber du musst vorsichtig sein. Versprichst du mir das?«
»Na klar.«
»Und du bist hoffentlich nicht allein?«
»Nein, wir sind immer zu zweit im Streifenwagen.«
»Sei vorsichtig.«
»Ich bin immer vorsichtig.« Die Drei hielt vor ihr und sie stieg ein, ohne dass sie es vorgehabt hatte. Wahrscheinlich war das Handy schuld. Die Beine gingen von allein, wenn man telefonierte. Plötzlich war man irgendwo und hatte keine Ahnung, wie man dorthin geraten war.
Die Straßenbahn fuhr an.
»Ich kann dich nicht mehr richtig verstehen, Mutti. Ich ruf dich morgen an.«
»Fröhliche Weihnachten noch einmal. Wir denken an dich.«
»Tschüs, Mutti.«
Sie drückte auf Aus. Die Straßenbahn schepperte durch Hängmattan. Gerda Hoffner war allein im Wagen, wie auf einer exklusiven Reise. Am Stigsbergstorget warteten nicht viele Leute, die Türen des Supermarktes öffneten und schlossen sich, Menschen kamen und gingen, Fehlendes für das Weihnachtsbuffet besorgen. Sie hatte nichts für irgendein Buffet gekauft. Vielleicht sollte sie vor Dienstantritt eine Pizza bei Götas essen. Heiligabend war nur etwas für Familien.
22
U m halb zwei stand alles bereit, auf dem Tisch, auf der Spüle, der Arbeitsplatte, dem Herd: zwei Sorten eingelegte Heringe, Eierhälften, gefüllt mit Krabben in Mayonnaise, der Rote-Bete-Salat, kalt geräucherter Lachs, Janssons Verführung, die Fleischklößchen, Cocktailwürstchen, Rippchen, der Rotkohl, Omelett mit sahnigen Trompetenpfifferlingen, Roggenbrot, Butter, sechzehn Monate gelagerter Käse. Weihnachtsmost, Bier und Branntwein. Es war kein übertriebenes Weihnachtsbuffet. Aber es war gut.
Winter hatte rote Wangen.
»Ich muss mich für dieses dürftige Mahl entschuldigen«, sagte er. »Und für meine hässliche Frau.« Eine chinesische Redensart vor Banketten. Elsa fand das nicht witzig. Niemand fand es witzig. Vielleicht war er berauscht vom Essen, ohne überhaupt etwas gegessen zu haben.
Donald Duck wurde verrückt und für immer in einen Specht verwandelt. Micky Maus, Goofy und Donald Duck überlebten auf mirakulöse Weise eine Wahnsinnsfahrt die Rocky Mountains hinunter. A-Hörnchen und B-Hörnchen ärgerten Pluto, und die sieben kleinen Zwerge taten für Schneewittchen, was in ihrer Macht stand.
Winter hatte das alles schon tausendmal gesehen. Schließlich war er Jahrgang 1960 . Anfang der siebziger Jahre hatte es sich in Schweden zur Tradition entwickelt, dass die Kinder Heiligabend um fünfzehn Uhr Donald Duck im Fernsehen anschauten. Er war damit aufgewachsen. In seiner Kindheit hatte es in diesem Land nur einen einzigen Fernsehkanal gegeben. Jetzt erschien ihm die Vergangenheit paradiesisch. Lag es an seinem Alter? War es Nostalgie?
Er hoffte, dass Elsa und Lilly diese heilige Fernsehstunde genauso schätzen würden wie er. Es war ihre gemeinsame Verbindung zur Vergangenheit. Micky Maus, Donald Duck und Goofy.
Und dann war es vorbei. Der Heiligabend war bereits weit fortgeschritten. Und doch hatten sie das Beste noch vor sich.
Gerda Hoffner und Johnny Eilig kreuzten durch Vasastan. Seltsamerweise waren noch immer Leute unterwegs. Letzte Einkäufe und all das. Oder eine allgemeine Heimatlosigkeit. Rastlosigkeit.
Sie fuhren die Götabergsgatan entlang und an 28 + und Basement vorbei.
»Bist du mal
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