Der Leuchtturm von Alexandria
fielen mir keine Behandlungen mehr ein, und ich mußte den Tatsachen ins Auge sehen. Was sollte ich den Beamten sagen? Auf Theophilos’ Hilfe konnte ich nicht mehr hoffen. Ich mußte meine Rolle eines fähigen, aber etwas beschränkten Arztes, der von medizinischen Einzelheiten besessen ist und dem von den Kirchenbehörden keinerlei anderes Wissen anvertraut worden war, weiterspielen. Doch ob der Präfekt mir glauben würde, ohne mich vorher foltern zu lassen? Was hatte ihm Athanaric wohl über mich erzählt?
Ich erinnerte mich an all die Folteropfer, die ich gesehen hatte, und fühlte mich so elend vor Angst, daß ich fast alles übrige vergaß. Ich versuchte erneut zu beten, um Stärke zu bitten, und konnte es doch nicht. Ich durfte nicht in Panik geraten, dachte ich, es ist alles vorbei, wenn ich in Panik gerate. Verzweifelt begann ich, mir einige der Maximen des Hippokrates ins Gedächtnis zu rufen: Trotz meiner verzweifelten Lage fielen sie mir ohne weiteres ein. »Das Leben ist kurz und die Heilkunst lang.« Ich geriet nicht in Panik.
Gegen Mittag brachten die Gefängnisaufseher die Gefangenen zurück, zerrten diejenigen, die nicht gehen konnten, hinter sich her und ketteten sie wieder an. Dann blickten sie sich um, erspähten mich, schnitten den Lederriemen von der Wand und zerrten mich hinaus. Meine Beine waren eingeschlafen, und ich taumelte. Die übrigen Gefangenen begannen laut für mich zu beten, doch die Gefängniswärter schrien, sie sollten aufhören oder es werde heute kein Essen geben. Aber sie hörten nicht auf.
»Halsstarrige ägyptische Schweine«, sagte einer der Wächter und versetzte mir einen Fußtritt, um seinen Empfindungen Erleichterung zu verschaffen.
Ich wurde aus dem Gefängnis geschleppt und durch die still daliegenden Straßen der Zitadelle zur Präfektur geführt. Es war ein schönes Gebäude, mit marmornen Säulen an der Vorderseite und von Gärten rings umgeben. Meine Wächter führten mich durch das mit Fliesen ausgelegte Atrium mit seinen Mosaiken der vier Jahreszeiten, durch einen Hof voller Pfirsichbäume und schließlich in eine Amtsstube. Es war ein großer Raum, der Fußboden war mit wunderschönen Mosaiken von Delphinen ausgelegt, die Wände waren mit Szenen städtischen Lebens bemalt und mit Wandteppichen behängt. Nach all den Aufständen und den Soldaten und dem Gefängnis kam mir diese ganze Pracht beinahe wie ein Traum vor. Der Präfekt Palladios lehnte sich auf einer Ruhebank aus Zedernholz zurück und leerte gerade einen Becher Wein. Er war frisch gebadet und trug einen grünen Umhang mit einem Purpurstreifen. Er war ein Mann mittleren Alters, ein Illyrier. Ich war ihm ein paarmal im bischöflichen Palast begegnet, wo er anfangs Athanasios und dann Petrus einen Besuch abgestattet hatte. Auf der neben ihm stehenden Ruhebank saß ein anderer Mann, ein magerer, nervös aussehender Mensch mit einem Kropf, lockigen braunen Haaren und großen, ruhelosen Händen. Sein Umhang hatte ebenfalls einen purpurnen Saum. An seinem Finger trug er einen goldenen Siegelring mit dem Löwen des Apostels Markus. Athanasios hatte ihn getragen, später Petrus. Dann war dies also Lucius.
Hinter diesen beiden saß der Notar, der nach meinem Besuch bei Petrus alles protokolliert hatte. Er hatte seine Schreibtafel vor sich liegen und hielt seinen Griffel in der Hand; er blickte auf und nickte den Soldaten zu. Sie salutierten. »Der Eunuch Chariton von Ephesus«, verkündeten sie, und alle Anwesenden richteten ihre Blicke auf mich. Ich muß wie ein Verbrecher ausgesehen haben. Ich trug den alten schwarzen Umhang, der einst Theophilos gehört hatte und auf den sich das Blut oder das Erbrochene mehrerer Patienten ergossen hatte, und meine besudelte blaue Tunika, die im Gefängnis völlig verdreckt war. Außerdem war ich über und über mit getrocknetem Blut und Kot bedeckt. Ich wußte, daß ich stank; der Präfekt verzog seine Nase vor Ekel. Ich konnte mein eines Auge nicht richtig öffnen; es war von den Schlägen der vergangenen Nacht angeschwollen. Ich stand zwischen meinen beiden Wächtern, meine Hände waren mir auf dem Rücken gefesselt. Ich blickte auf den Fußboden.
»Hm, ja«, sagte der Präfekt. »Also, Eunuch, hast du eine Ahnung vom Verbleib des falschen Bischofs Petrus von Alexandria?«
»Er war im Gefängnis, hier in der Zitadelle«, erwiderte ich.
»Ich habe ihn hier vor drei Tagen besucht. Ich wollte ihn in den nächsten Tagen noch einmal besuchen.«
»Wo wolltest du ihm
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