Der Leuchtturm von Alexandria
versiegelt, und ich konnte nur hoffen, daß die Siegel tatsächlich nicht aufgebrochen waren, denn obwohl der Brief außen an »Chariton den Arzt, Novidunum« adressiert war, lautete die Anrede im Inneren: »Theodoros an seine Schwester Charis, sei gegrüßt.«
»Hast du denn ganz und gar den Verstand verloren? Ich bedaure es, deinen Plänen jemals zugestimmt zu haben. Für ein paar Jahre nach Alexandria zu gehen und Medizin zu studieren war schon schlimm genug, doch auf diese Weise kamst du Festinus wenigstens nicht mehr unter die Augen, außerdem wußte ich, welche Freude es dir machte. Aber du hast versprochen, daß du zurückkommst! Charition, das ist jetzt beinahe vier Jahre her; ich habe inzwischen meinen eigenen Haushalt und kann dich mit kultivierten Leuten zusammenbringen, ohne mich dessen schämen zu müssen. Ich bin mittlerweile angesehen genug, so daß Festinus uns nichts mehr anhaben kann. Mein Freund Kyrillos ist auch hier in Konstantinopel, er ist Assessor, und es sieht so aus, als mache er Karriere. Er würde dich sicherlich sehr gerne heiraten; er fragt bisweilen nach dir, und ich antworte ihm ausweichend, erzähle ihm nur, daß es dir gutgeht. Aber bei Artemis der Großen, kein Mensch auf der ganzen Welt würde dich heiraten, wenn er wüßte, daß du einmal Armeearzt gewesen bist. Je länger die Sache dauert, desto schwerer werden wir erklären können, wo du die ganze Zeit über gewesen bist. Und schon bald wirst du nicht mehr im heiratsfähigen Alter sein. Komm sofort nach Konstantinopel. Ich kann gar nicht glauben, daß du so etwas tust. Ich habe noch niemals gehört, daß sich eine Frau so schamlos aufgeführt hätte. Willst du etwa dein ganzes Leben lang ein Eunuch bleiben? Keine Kinder, keinen Mann? Das ist doch kein richtiges Leben. Es ist unnatürlich.«
Der Brief tat mir weh. Ich wußte nicht, wie ich ihn beantworten sollte. Ich verbrannte ihn und verstreute die Asche aus Angst davor, daß ihn jemand lesen könne, doch die Worte hafteten in meinem Gedächtnis und waren dort ein ständiger Quell des Schmerzes. Jetzt wußte Thorion zumindest, was geschehen war, und er hatte die Kluft zwischen derjenigen, die ich einmal gewesen war, und derjenigen, die ich jetzt war, also auch die Kluft zwischen ihm und mir erkannt – eine Kluft, die inzwischen so breit wie die Donau war. Aber er dachte immer noch, ich könne sie überbrücken und zurückkehren. Doch wie hätte ich das über mich bringen sollen? Ich war der Leibarzt zweier Erzbischöfe in Alexandria gewesen, ich war Chefarzt der Festung Novidunum, ich hatte für meine Behandlungsmethoden gekämpft und gewonnen. O ja, verheiratete Frauen genießen mehr Freiheiten als junge Mädchen, doch selbst die Ehefrau eines vornehmen Mannes ist durch unerbittliche Anstandsregeln dazu verdammt, keiner ernsthaften Tätigkeit nachzugehen.
Eine Woche nach Erhalt dieses Briefes träumte ich davon, ich sei in Ephesus. Ich war gekleidet, wie ich auch als thrazischer Arzt gekleidet war, mit Hosen und all dem übrigen, aber ich stand vor dem Haus meines Vaters. Ich spürte in meinem tiefsten Innern, daß ich dort unbedingt einen Patienten besuchen mußte. Ich ging hinein, schlenderte durch den ersten Hof und durch das Wagenlenkerzimmer. Es war kein Mensch zu sehen, aber ich hörte, wie jemand wimmerte. Ich ging ins Schlafzimmer meines Vaters, und dort lag er, bleich, mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber ganz ruhig. Ich berührte seine Stirn. Sie war kalt. Ein schlechtes Zeichen, dachte ich bei mir und suchte in meiner Tasche nach Opium. »Ich will nichts«, sagte Vater. »Ich will nicht mehr leben, ich möchte diese Welt gegen den Himmel eintauschen. Mein Sohn haßt mich, und meine Tochter ist fortgelaufen.«
»Ich bin nicht fortgelaufen«, entgegnete ich. »Ich bin hier, ich kann dich heilen.« Bei diesen Worten kehrte ein wenig Farbe in sein Gesicht zurück. Er lächelte mich strahlend an und richtete sich auf; er umarmte mich. Einen Augenblick lang fühlte ich mich furchtbar glücklich: Ich konnte die Toten ins Leben zurückrufen, wie Äskulap. Dann wurden seine Arme um meinen Hals steif. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich wand mich verzweifelt hin und her. Als ich meinen Kopf freibekam, sah ich meinen Vater an, aber er war es gar nicht, es war Festinus, der seine Zähne zu einem Lächeln entblößte. Ich versuchte zu schreien, aber er preßte seine Lippen auf die meinen; ich bekam keinen Atem mehr, war völlig hilflos. Er zog mir meine kurze Tunika über die
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