Der Leuchtturm von Alexandria
würgenden Rauchwolken des Winters verschwanden. Die Tage wurden länger; in den Sümpfen um den Mareotis-See herum quakten die Frösche; die Feigenbäume und die Weinstöcke in den Gärten streckten klebrige grüne Knospen heraus. Ich vergaß allmählich, daß ich jemals ein Mädchen namens Charis gewesen war, daß ich jemals auf andere Art und Weise gelebt hatte als jetzt, daß es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der ich nichts von der richtigen Dosierung von Nieswurz oder den Schriften des Erasistratos wußte.
Eines Abends im März nahm ich einem Kind die Armschiene ab. Ich hatte den Knochen selbst gerichtet – es war ein komplizierter Bruch beider Unterarmknochen gewesen. Während ich den Arm schiente, war mir bewußt, daß mir die Prozedur wirklich sehr gut gelingen mußte, andernfalls würde das Kind sein Leben lang ein Krüppel bleiben. Ich hielt den Atem an, als ich den Arm freilegte. Das kleine Mädchen bewegte sein Handgelenk, so wie ich es ihm sagte, hielt den von der Schiene befreiten Arm neben seinen anderen, beantwortete mein Lächeln mit einem Lächeln, dann tanzte es durch das Zimmer, wedelte mit beiden Armen in der Luft und jauchzte vergnügt. Ich hätte ebenfalls jauchzen können. Stärke, Gesundheit, Lebenskraft: Genesung. Und ich hatte es bewerkstelligt, hatte mich mit der Natur zusammengetan, um es zu bewirken. Die Medizin mag ihre Grenzen haben, dachte ich, aber sie ist besser als gar nichts.
Und erst jetzt wurde mir klar, daß ich niemals nach Ephesus zurückkehren und einen von Thorions Freunden heiraten würde. Ich wollte mein ganzes Leben lang in Alexandria bleiben und die Kunst des Heilens praktizieren.
5
Einen Monat später, etwa ein Jahr nach meinem Fortgang aus Ephesus, erhielt ich den ersten Brief von Thorion. Eines Abends, als Philon und ich von unserer Runde heimkehrten, händigte Deborah ihn mir aus. Sie erzählte mir, ein Seemann habe ihn im Laufe des Tages abgeliefert. Ich erstattete ihr das Geld, das sie ihm dafür gegeben hatte, und setzte mich an den Tisch des Wohnzimmers, um den Brief zu lesen. Mir schlug das Herz in der Kehle, als ich das Siegel aufbrach. Ich war genauso nervös, als stünde Thorion neben mir, bereit, mich wegen des Lebens, das ich führte, auszuzanken.
Aber Thorion wußte natürlich nicht mehr als das, was ich ihm in meinem Brief erzählt hatte. Seine Antwort war ziemlich lang ausgefallen: Er hatte offensichtlich schon im Herbst, nachdem er meinen Brief erhalten hatte, zu schreiben angefangen, dann den ganzen Winter über in Abständen weitergeschrieben, bis die Schiffe im Frühjahr lossegelten und er den Brief aufgeben konnte. Er hatte viel über die Hauptstadt, seine Studien und seine Freunde zu erzählen: Er war gesund, bekleidete jedoch kein Amt mehr bei dem prätorianischen Präfekten. Festinus und der Präfekt, ein gewisser Modestus, hielten zusammen wie »Pech und Schwefel«, und kurz nachdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, war er seines Postens auch schon wieder enthoben worden. Aber er hatte inzwischen einen anderen Posten, und zwar im Amt eines Provinzrichters, und er machte sich Hoffnungen, befördert zu werden. »Wenn ich erst einmal befördert bin, werde ich genug Geld haben, um mir einen Haushalt leisten zu können. Dann kannst du zu mir kommen«, schrieb er. »Aber bis es soweit ist, hat es keinen Zweck.« Festinus war über das »Verschwinden meiner Schwester«, wie Thorion es vorsichtig umschrieb, außer sich gewesen. Und obwohl er inzwischen versetzt worden war und als Statthalter in Paphlagonia residierte, war Ephesus für sämtliche Mitglieder der Familie nach wie vor ein ungemütlicher Ort, und Konstantinopel würde auch nicht besser sein, falls ich dort auftauchte. Vater hatte weiteres Land und sogar einige seiner Rennpferde verkaufen müssen, um für die Verluste aufkommen zu können, die der Statthalter ihm zugefügt hatte. »Aber das Richteramt ist der vorgezeichnete Weg zur Statthalterschaft, und ich kann die Verluste wettmachen, sobald ich selbst Statthalter bin.« Maia ging es gut, sie war mit Thorion nach Konstantinopel gegangen. Ihre Gelenke taten ihr jedoch immer noch weh. Sie ließ mir ausrichten, gut auf mich achtzugeben, und sie hoffte, daß ich nicht genötigt wäre, zuviel von dem Schmuck meiner Mutter zu verkaufen. Ich solle gut essen und ja nicht zum Judaismus übertreten.
An dieser Stelle mußte ich lächeln. Dann sah ich auf und bemerkte, wie Philon und Deborah mich mit gespannter Aufmerksamkeit
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