Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
wäre.
»Was ist eigentlich los?« Sie entzog sich ihm, damit sie ihn richtig sehen konnte. »Erzähl schon! Was ist passiert?«
Kaum hatte er sich an den Küchentisch gesetzt, sprudelte alles aus ihm heraus. Er wagte nicht, sie anzusehen.
»Mensch, Bertil.« Rita hockte sich neben ihn. »Das war keine so gute Idee.«
Seltsamerweise fand er es angenehm, dass sie sich die tröstenden Floskeln sparte. Sie hatte ja recht. Es war keine gute Idee gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber mit so etwas hatte er nie im Leben gerechnet.
»Was siehst du in mir?«, fragte er schließlich. Er sah ihr direkt in die Augen, als wollte er ihre Antwort nicht nur hören, sondern auch sehen. Es war anstrengend und ungewohnt, einen Schritt zurückzutreten und sich selbst von außen zu betrachten. Sich mit anderen Augen wahrzunehmen. Bislang hatte er es um jeden Preis vermieden, aber nun ging es nicht mehr anders. Es war auch nicht erstrebenswert. Rita zuliebe wollte er ein besserer Mensch und ein besserer Mann werden.
Sie erwiderte seinen Blick und schwieg eine ganze Weile. Dann streichelte sie ihm die Wange.
»Ich sehe jemanden, der mich anguckt, als ob ich das achte Weltwunder wäre. Der so viel Liebe in sich trägt, dass er alles für mich tun würde. Der meinem Enkelkind geholfen hat, auf die Welt zu kommen, der zur Stelle war, als er gebraucht wurde. Der sein Leben für einen kleinen Jungen geben würde, einen Jungen, der seinen Opa Bertil abgöttisch liebt. Ich sehe jemanden, der mehr Vorurteile hat als alle anderen Menschen, denen ich je begegnet bin, der aber jederzeit bereit ist, diese Vorurteile fallenzulassen, wenn die Realität ihn vom Gegenteil überzeugt. Und ich sehe jemanden, der seine Fehler und Schwächen und vielleicht sogar eine etwas zu hohe Meinung von sich selbst hat, dem es aber in der Seele weh tut, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Und das weiß er auch.« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. »Nichtsdestotrotz bist du der Mann, neben dem ich jeden Morgen aufwachen möchte. In meinen Augen bist du perfekt.«
Auf dem Herd kochte das Essen über, aber Rita scherte sich nicht darum. Der Druck auf Mellbergs Brust ließ langsam nach und machte einem vollkommen neuartigen Gefühl Platz. Bertil Mellberg empfand tiefe Dankbarkeit.
Das Verlangen war immer noch da. Sie fragte sich, ob sie jemals frei von dieser heftigen Gier sein würde, der sie nie wieder nachgeben konnte. Unruhig wälzte sich Annie im Bett. Es war früher Abend und noch nicht Zeit, ins Bett zu gehen, aber Sam schlief schon, und sie hatte sich hingelegt, um ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde später hatte sie jedoch erst einmal umgeblättert und wusste kaum noch, welches Buch sie in der Hand hatte.
Fredrik mochte es nicht, wenn sie las. Er hielt Bücher für Zeitverschwendung, und wenn er sie mit einem erwischte, riss er es ihr aus der Hand und warf es durchs Zimmer. Sie hatte jedoch begriffen, worum es dabei in Wahrheit ging. Er wollte sich nicht dumm und ungebildet vorkommen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen und ertrug den Gedanken nicht, dass sie klüger war und Zugang zu anderen Welten hatte als er. Er wollte doch der Smarte und Weltgewandte sein. Sie sollte hübsch aussehen und den Mund halten und möglichst keine Fragen stellen oder ihre Meinung äußern. Während einer Einladung bei ihnen zu Hause hatte sie den Fehler gemacht, sich in die Diskussion der Männer über die Außenpolitik der USA einzumischen. Dass sich ihre Ansichten zudem als kenntnisreich und durchdacht erwiesen, war mehr, als Fredrik verkraften konnte. Er hielt sich zurück, bis die Gäste gegangen waren. Dann musste sie teuer dafür bezahlen. Sie war im dritten Monat schwanger.
So viele Dinge hatte er ihr genommen, nicht nur das Lesen. Langsam, aber sicher hatte er ihre Gedanken, ihren Körper und ihre Selbstachtung mit Beschlag belegt. Sie durfte nicht zulassen, dass er ihr auch noch Sam wegnahm. Er war ihr Leben, ohne ihn war sie nichts.
Sie legte das Buch auf die Decke und drehte sich zur Wand. Fast sofort hatte sie das Gefühl, es würde sich jemand an ihr Bett setzen und ihr die Hand auf die Schulter legen. Lächelnd schloss sie die Augen. Jemand sang mit schöner, aber leiser Stimme ein Wiegenlied. Das Lachen eines Kindes ertönte. Ein Junge spielte zu den Füßen seiner Mutter und hörte genau wie Annie dem Lied zu. Sie sehnte sich danach, für immer bei ihnen zu bleiben. Hier waren Sam und sie sicher. Die Hand
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