Der Lichtritter: 1 (Oleipheas Schicksal) (German Edition)
schillerndes Meer von
Erinnerungsfragmenten auf. Alle Ereignisse der letzten Wochen, alle
aufgekommenen Fragen, alle Ängste und alle Sorgen, sogar die Bilder von Lewia
s chwirrten vor ihm. „Befreit Euren Geist! Lasst los!“, dröhnte es dumpf an sein
Ohr. Kaum hatte Thalon allerdings eine der Erinnerungen beiseite geschoben,
nahm eine andere ihren Platz ein. „Es funktioniert nicht. Ich bekomme keinen
klaren Kopf“, murmelte Thalon. Er wusste nicht, ob Vigil ihn noch hören konnte.
„Beruhigt Euer Herz“, ertönte jedoch kurz darauf der weise Rat des
Wächters. Nun konzentrierte sich Thalon
vollständig auf seinen Herzschlag. Er spürte, wie es arbeite und das Blut durch
seinen Körper pumpte. Er fühlte das Zusammenziehen und Lockerlassen des Muskels
und stellte sich vor, dass in ihm die Zeit langsamer verläuft. Allmählich
spürte er, wie das Schlagen des Herzens regelmäßiger und ruhiger wurde. Als
sich sein Puls schließlich eingependelt hatte, machte er sich daran, den Kopf
zu befreien. In Gedanken sortierte er die Erinnerungen und schob sämtliche
Fragen, die ihn bisher bewegt hatten, beiseite. Die Bilder an das Vergangene
verstaute er schließlich in einer Ecke seines Gedankenreiches und versuchte,
nichts seine Aufmerksamkeit zu schenken. Tatsächlich hatte er Leere vor dem
geistigen Auge. Zum ersten Mal, seitdem er von seinem Schicksal erfahren hatte,
fühlte er sich frei. Er war frei von äußeren Einflüssen, frei von Gefühlen und
frei von allem, was ihn sonst noch hätte bewegen können. Vigil, der die ganze
Zeit ein paar Schritte entfernt von Thalon gestanden hatte, beobachtete
freudig, was gerade passierte. Während Thalon auf dem Boden der Ebene zu Füßen
der Statue im Gras saß und sich nicht bewegte, entfuhr seinem Körper etwas. Der
Lichtritter in ihm stieg als bläulich leuchtende Silhouette auf und schwebte
die Statue empor. Vigil klatschte freudig in die Hände. „Ihr habt es geschafft!
Ihr habt Euren Geist befreit!“, rief er. Auch für Thalon war es eine
unglaubliche Erfahrung. Er sah, wie er sich aus seinem eigenen Körper hinaus in
die Luft erhob. Unter ihm schien Vigil etwas zu rufen, doch der Lichtritter
konnte es nicht hören. Immer kleiner wurde der Wächter, bis Thalon ihn
schließlich lediglich als kleinen Fleck inmitten der weiten Ebene erkennen konnte.
In ihm kam das Gefühl auf, den Sternen entgegen zu fliegen. Er jauchzte
innerlich und hätte am liebsten Freudensprünge gemacht, wenn er nicht bereits
in der Luft gewesen wäre. Der Kopf der Statue kam rasch näher und gespannt
wartete Thalon auf das, was gleich passieren würde. Oben angelangt stoppte sein
Flug sanft und er setzte behutsam den ersten Schritt auf das gewaltige
steinerne Haupt. Hatte Vigil ihm nicht gesagt, dass er erwartet werden
würde? Er blickte sich um, konnte jedoch
nichts Besonderes entdecken. In diesem Moment trat aus dem Nichts eine Gestalt
hervor. „Willkommen, Erbe“, begrüßte sie ihn. Obwohl die Erscheinung nicht dem
Bildnis aus Anthlos Buch glich, erkannte Thalon sie. „Ihr seid Kenaion“,
stammelte er, während sein Blick die Erscheinung musterte. Die Haut des
Seraphen war schneeweiß und die Augen schienen blau wie das Meer. Seine langen
blonden Haare fielen geschmeidig an ihm herunter. Bis auf den Kopf und die Arme
war sein restlicher Körper von zwei der insgesamt vier Flügel bedeckt, während
die anderen beiden Schwingen aus seinem Rücken majestätisch in die Luft ragten.
Der Lichtritter schwebte auf Thalon zu. Noch nie hatte dieser so viel Eleganz
und Anmut in einer so einfachen Bewegung gesehen. „Dies war einst mein
sterblicher Name. Nach meinem Tod jedoch, erreichte ich diese Form und ein Name
war nicht mehr notwendig. Ich freue mich, dass wir nach so langer Zeit endlich
wieder einen Erben haben“, sprach er. In der Stimme lag etwas Unmenschliches
und dennoch war der Klang derart schön, dass Thalon wie verzaubert war. „Wir?
Ich sehe niemand anderen“, stellte Thalon umherblickend fest. Als hätte der
Seraph nur darauf gewartet, weitete er seine hinteren Schwingen. Wie auch er
aus dem nichts erschienen war, tauchten nun zu seinen beiden Seiten jeweils
zwei männliche und weibliche Personen auf. „Wir sind die Lichtritter von Oleiphea!“, sprachen sie im Einklang. „Was
wird nun mit mir passieren?“, wollte Thalon wissen. Die Erscheinung Kenaions
kam nah an ihm heran. „Trotz Eures jungen Alters, habt Ihr bereits zwei der
drei mächtigen Fähigkeiten der
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