Der Liebessalat
Variante der banalen Wahrheit aller Liebenden: Sie geht mir nicht aus dem Kopf.
Wenn Viktor begeistert war, wurde er schnell gründlich und gierig. Er wollte mehr über den Song wissen, in dem er sich wiedererkannte. Er wollte mehr über seinen Sänger wissen, weil er mehr über sich wissen wollte. Ella und Ira hatten gesagt, dieser Zug sei ein Zeichen seines maßlosen Narzißmus: Wenn er einen Spiegel gefunden habe, könne er nicht aufhören, sich darin zu betrachten. Was für ein gestörtes psychoanalytisches Gerede! Das mit dem Spiegel stimmte schon, aber war es Eigenliebe, wenn man im schönen Schmachten eines anderen sein eigenes Schmachten erkannte und erforschen wollte? Wenn das narzißtisch war, auch gut: Dann war er gerne ein Narziß. Es ging um Penelope, es ging wieder einmal darum, der Liebe auf die Spur zu kommen, bei dieser Jagd waren Viktors Energien unerschöpflich.
Er tauchte ab ins Internet und stöberte in den Informationsmassen, die weltweit von Besessenen zusammengetragen worden waren, und merkte, wie ein Teil der Besessenheit auf ihn übergriff und ihn ansteckte. Nach einer Stunde wußte Viktor, wann der Meistersinger aus dem Wilden Westen den herben Lovesong zum ersten Mal aufgenommen hatte, im November 1965 nämlich – interessanterweise zwei Tage vor seiner heimlichen Hochzeit. Im Februar 1966 dann die bekannte Studioaufnahme für die Platte, aber die Spezialisten wußten zu berichten, auf welchen Konzerten Bob Dylan den Song noch viel inniger vorgetragen hatte. Es gab Hinweise darauf, von welchen Konzerten private Mitschnitte existierten. Per E-Mail nahm Viktor Kontakt zu einigen Dylan-Fanatikern auf und meldete Interesse an.
Kurz nach zwölf kam Ellen nach Hause, die mit Freunden im Kino gewesen war, schwärmte von einem französischen Film und behauptete, Viktor würde das Leben versäumen. Beschwipst wie sie war, mißachtete sie die Distanz, näherte sich Viktors Bildschirm, und es fiel ihr auf, daß Viktor nicht tippte, sondern im Internet war. »Aha«, sagte sie. »Vorsicht«, sagte Viktor, »das war einer der Gründe, warum meine Ehe mit deiner Vorvorgängerin Ella auseinanderging: Sie konnte es nicht lassen, mir über die Schultern zu blicken.«–»Oh«, sagte Ellen und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Das hatte nur Ira gedurft: hinter ihm stehen und ihm beim Schreiben zusehen. Ihr lautes Atmen hatte ihn lüstern gemacht. Penelope würde er dieses Privileg auch zugestehen. Ein Bild für Götter: die hinter ihm stehende Penelope. Eine weitere Vision. Er brauchte kein Kino.
Während sich eine weitere Internetseite über eine der Bob-Dylan-Konzert-Touren mit zahllosen Tabellen und Statistiken sich langsam aufbaute, nutzte Viktor die Zeit, seinen nächsten Brief an Penelope zu beginnen, in dem er ihr wie immer genau das schrieb, was ihn gerade umtrieb: Mit welchem Entzücken er in Bob Dylans Visionen von einer gewissen Johanna seine, Viktors eigene Visionen von ihr, Penelope, wiedererkannt habe.
»We sit here stranded, though we’re all doin’ our best to deny it«– das reimte sich so elend gut auf das »you’re tryin’ to be so quiet«. Man versucht, ganz ruhig zu sein und merkt: Da sitzt man, gestrandet, und tut so, als wäre nichts. Genauer: Obwohl wir wissen, daß unsere Lage aussichtslos ist, tun wir alles, um das abzustreiten. Man muß den Ernst der Lage nicht immer unbedingt zur Kenntnis nehmen. Das war doch wohl die Moral dieser Zeile. »Doin’ our best to deny it«: Das Leugnen der fatalen Lage war im ökonomischen und ökologischen Bereich politisch plemplem, und auch im privaten Leben war es alles andere als die Lösung der Probleme, aber es war doch ein gewisser Fortschritt gegenüber den Selbstzerfleischungen Strindbergscher Ehepaare und dem pathetischen Alkoholismus der verzweifelten Figuren bei Tennessee Williams oder Edward Albee.
Bei einer gewissen in dem Song zitierten Louise mußte Viktor an Ellen denken, die oft in seiner Nähe war, und ihm damit klar machte, daß Penelope nicht da war: »Louise, she’s all right, she’s just near… But she just makes it all too concise and too clear – that Johanna’s not here.« Wie er das sang: was für ein süßer, trauriger und irgendwie auch diabolischer Seufzer. Wie konnte einer so viel Inbrunst in einzelne sich reimende Vokale legen: quiet – deny it, clear – here, face – place, loads – explodes, freeze – knees. »I can’t find my knees«– was für ein besoffen taumelndes Bild: Ich kann meine
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