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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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gehen. Sie empfand es als angenehm, sich eine Weile im hellen Licht der
     Küche aufzuhalten, das Geschirr und Besteck abzuwaschen und alle Sachen wegzuräumen. Dann ging sie, wegen der Insekten ohne
     Licht zu machen, durch den Wohnraum auf die Terrasse zurück.
     
    Inzwischen war es dunkel geworden, und eine weiträumige Stille hatte sich ausgebreitet. Der Mond war höher gestiegen und überzog
     die graue Unstofflichkeit der Welt mit einem fahlen Glanz. Baumkronen und Büsche hatten sich zu einem schwarzen Schaum zusammengeballt,
     der bei jedem Lufthauch von einem leisen Rieseln durchlaufen wurde. Die angeleuchtete Burgruine stand im Dunkel wie eine Theaterkulisse.
    Um sich ihren Eindrücken auszuliefern, ging sie vorsichtig, mit kurzen tastenden Schritten auf dem rutschigen Gras,den dunklen Hang hinunter, blickte dabei auf ihre Füße, die aus dem grauen Gras ein Geflatter kleiner Nachtfalter aufscheuchten.
     Bei den alten Kirschbäumen blieb sie stehen, um sich umzuschauen. Etwas schwirrte um ihren Kopf: Fledermäuse, die Insekten
     jagten. Sie wischte sich hastig über das Gesicht und zerrieb eine winzige Feuchtigkeit auf der Wange. Alles sah von hier aus
     anders aus: Der Hang, den sie hinuntergekommen war, hatte im Mondlicht einen matten bleifarbenen Glanz, und auf den dunklen
     Scheiben der Terrassentüren, die sie wegen der Nachtfalter und Mücken hinter sich zugezogen hatte, sah sie den schwachen Widerschein
     des Mondlichtes wie ein in einem Tümpel versunkenes Blinken. Die Schlagläden aller anderen Fenster und Türen waren geschlossen
     und verriegelt, und das Haus sah hinter der breiten Terrasse geduckt aus, als sei es ein Stück tiefer in den Boden gesackt.
     Dahinter erhob sich der Hochwald als eine schwarze Woge und schien immer mehr Dunkelheit auszuströmen, Wellen von Nachtluft,
     die den Hang hinunter ins Tal wehten.
    Sie erschauerte. Hier oben, umgeben von den Ausläufern des Waldes, war sie weit und breit der einzige Mensch. Es war ein unheimliches
     Gefühl von Ausgesetztheit, in dem sie bewußt eine Zeitlang ausharrte, um alles in sich aufzunehmen. Allmählich löste sich
     ihre Beklommenheit, und sie fühlte sich eingebunden und geborgen in der weiten Unbestimmtheit der nachtdunklen Welt. Alles
     war groß, wunderbar, abgründig und sanft. Und sie war ein Teil davon.
    Nach einer Weile stieg sie den Hang hinauf, verriegelte hinter sich die Terrassentür und schaltete die Stehlampe an. Dann
     machte sie die Runde durch's Haus, kontrollierte alle Fenster und Türen, schloß zu, was zu verschließen war, und legte sichins Bett. Ein Gefühl der Behaglichkeit stellte sich ein. Es war kein Widerspruch zu ihrer Einsamkeit. Im Gegenteil, es schien
     aus der Einsamkeit hervorzugehen. Was hatte sie eigentlich dazu gebracht, ihr Leben mehr und mehr in ein Geflecht komplizierter
     Beziehungen einzusperren? Sicherheitsbedürfnis, Angst, Schuldgefühle? Sie wußte es nicht mehr genau. Sie wußte nur, daß sie
     diesen Schutz nicht brauchte.
     
    Leonhard kam wie besprochen gegen elf Uhr. Marlene war gerade in der Küche, als sie hörte, wie sein Wagen auf das Grundstück
     fuhr. Sie trocknete schnell die nassen Hände ab und ging nach draußen, um ihn zu empfangen. Er stieg mit der für ihn typischen
     Schwerfälligkeit aus dem Auto und schaute sich um. Dann sah er sie den Plattenweg herunterkommen und winkte. Er hatte einen
     vanillefarbenen Leinenanzug an, der von der Fahrt ein wenig zerknautscht war, und dicksohlige braune Wildlederschuhe, die
     nicht unbedingt dazu paßten, aber für Waldspaziergänge geeignet schienen. Die Sonnenbrille nahm er ab und schob sie samt Etui
     in seine Brusttasche, bevor sie sich begrüßten. Beide waren sie noch etwas befangen, als müßten sie erst aus dem Schatten
     der vergangenen Ereignisse heraustreten, um wieder normal miteinander umzugehen, und beide waren sie sich dessen bewußt und
     versuchten, es zu überspielen. Sie hielt ihm ihre Wange hin, und er gab ihr einen flüchtigen Begrüßungskuß.
    »Wie war die Fahrt?« fragte sie.
    »Gut. Relativ wenig Verkehr auf der Autobahn. Nur das letzte Wegstück zum Haus hoch, das ist ja kriminell.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist.«
    »Die Gemeinde, nehme ich an.«
    Sie gingen zum Haus. Oben angelangt, führte sie ihn um das Haus herum, weil sie wollte, daß er zuerst das ganze Grundstück
     sah.
    »Wie geht’s dir?« fragte er.
    »Danke. Sehr gut«, sagte sie, und im Augenblick

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