Der Liebeswunsch
er auf seine Uhr blickte, war ein Fluchtsignal. Aber ich wollte ihn nicht wieder entkommen lassen und sagte,
weil es mir gerade mit der Unwiderlegbarkeit des rettenden Einfalls in den Kopf gekommen war, ich würde mir einen Teil meines
Jahresurlaubs nehmen und für drei Wochen nach England fahren. Fast die ganze Zeit würde ich für ihn unerreichbar sein, denn
ich wolle ihn eine Zeitlang völlig in Ruhe lassen. In den drei letzten Tagen könne er mich dann in einem Londoner Hotel erreichen,
dessen Adresse er noch von mir bekäme. Dorthin könne er mir eine Nachricht schicken oder aber selbst kommen. Das aber nur,
wenn er seiner Frau mitgeteilt habe, daß er sich von ihr scheiden lassen wolle. Wenn er sich entscheide, bei ihr zu bleiben,
würde ich das kommentarlos akzeptieren. Wenn er aber zu mir käme, würden wir ein Jubelfest feiern, an das wir ein Leben lang
denken könnten.
Ich sagte das so emphatisch, um den Wunschtraum in ihm zu schüren und weil ich nicht anders konnte, als es mir so vorzustellen.
Paul dagegen hörte sich meine Vorstellungen mit gesenktem Kopf an und nickte stumm, als beuge er sich einem Urteilsspruch,
der ihm eine schwere Belastung auferlegte.
Während ich, unerreichbar für ihn, lange einsame Spaziergänge im Lake District machte, sah ich das immer wieder vor mir und
glaubte, ihn verloren zu haben. Doch nun war es geschehen, und mein Stolz verbot mir, ihn anzurufen, um ihm zu sagen, daß
ich meine Bedingungen, die vermutlich für ihn unerfüllbar waren, so nicht aufrechterhielte. Allmählich erfaßte mich ein Fatalismus,
der mich zwangsweiseruhigstellte, wie das in unserer Medizinersprache heißt. So kam ich immer noch wie betäubt in das elegante Londoner Hotel
im Stadtteil Kensington, das ich ausgesucht hatte für mein Wiedersehen mit Paul und das Jubelfest, das ich ihm versprochen
hatte. Mein Wunsch ihn zu sehen war so mächtig, daß ich schon die Verzweiflung vorausfühlte für den Fall, daß ich enttäuscht
würde. Was würde ich dann tun? Wie weiterleben, abgeschnitten von der Zukunft? Ich war jetzt überzeugt, daß es so kommen mußte,
denn ich hatte mich freiwillig zurückgezogen und Paul dem Einfluß seiner Familie überlassen. Das war wohl der größte Fehler,
den ich machen konnte, ein Fehler aus Überheblichkeit.
Als ich an der Rezeption meinen Namen sagte, klang meine Stimme wie zugeschnürt, und ich mußte meinen Namen wiederholen. Während
die Empfangsdame in ihrer Liste nachschaute, sagte ich überflüssigerweise, es sei ein double bedroom, und machte sie damit
auf die peinliche Enttäuschung aufmerksam, die mir wahrscheinlich bevorstand. »With a french bed?« fragte sie zurück. »Yes,
please«, sagte ich. Sie gab mir die Schlüssel und einen unbeschrifteten Umschlag, den ich hastig an mich nahm, aber nicht
öffnete. Erst im Lift las ich die eingelegte Karte mit Pauls großer Handschrift: »Ich bin da, zu Deinen Bedingungen, Paul.«
Das Unglaubhafte und Wunderbare war geschehen! Es war nur noch nicht sichtbar. Ich drückte die Karte mit der Schriftseite
gegen meine Brust, damit niemand sonst sie lesen konnte, aber es war sowieso keiner da. Wie eine Traumwandlerin ging ich über
den dicken Veloursteppich des Flurs und schloß das Zimmer auf: Das breite Bett, die Vorhänge aus rotem Samt, die Sessel, der
Sekretär und die Vase mit dem Blumenstrauß – hier würde es sein und hier wollteich ihn erwarten. Ich wollte ihn verschwenderisch dafür belohnen, daß er gekommen war. Der Hausdiener, in weißem Hemd und
grüner Weste, brachte mein Gepäck. Pauls Gepäck befand sich noch nicht im Zimmer – ein Detail, an dem der Rest meiner Angst
haftete. Aber ich hatte ja seine Karte.
Wie sah ich eigentlich aus? Ich ging ins Bad, um mich anzuschauen. Ich war blaß vor Aufregung. Und meine dunklen Haare wirkten
zerzaust. Die Augen, deren Spiegelbild mich wie eine Fremde anstarrten, und mein großer, gieriger Mund beherrschten mein Gesicht.
War das, was ich sah, dasselbe, was ihn manchmal in Entzücken versetzte und ihn dazu trieb, mein ganzes Gesicht mit Küssen
zu bedecken? Ich wußte es nicht. Ich war nicht ich. Ich brauchte ihn, um wieder zu mir selbst zu kommen. Ich dachte, das ist
die Sehnsucht – man wartet darauf, zu sich selbst erlöst zu werden.
Nach einer halben Stunde kam er. Er war vor mir angekommen und noch spazierengegangen, um die Wartezeit zu überbrücken. Das
Warten war ihm draußen in der Stadt
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